Corona, Amazon, Strukturwandel Warum ausgerechnet Osnabrück das Vorbild für Deutschlands Innenstädte ist

Ein Bild aus einer anderen Zeit: Das Kaufhaus L&T lockt Kunden mit Erlebnissen wie einem Surfbecken. Gut, wenn da nicht Corona wäre. Quelle: imago images

Der Onlinehandel bedroht die Einkaufsmeilen Deutschlands schon lange. Corona könnte ihnen jetzt den Rest geben. Doch eine Stadt wehrt sich besonders gegen den Tod der City. Ein Besuch in Osnabrück.

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Nicht nur das Wetter ist an diesem Montagnachmittag in Osnabrück ungemütlich. In der Johannisstraße, der einst vielbesuchten Einkaufsstraße der niedersächsischen Großstadt, regiert der Lärm der anfahrenden Stadtbusse. Die Baustelle am Ende der Straße vollendet die hektische Geräuschkulisse. Eine Gruppe Menschen steht teils fröstelnd bei der Haltestelle am Straßenanfang. Die Fenster der Geschäfte hinter ihnen sind mit bunten Postern für Veranstaltungen und politische Aktionen zugeklebt.

An der Farblosigkeit des Straßenzugs ändern sie nichts. Die Läden im Umkreis der Haltstelle scheinen bereits vor den coronabedingten Lockdowns verlassen worden zu sein, ein Blick in manche Fenster zeigt leergefegte Räume. Als der nächste Bus anrollt, steigen fast alle Personen ein. Ohne sie ist die Johannisstraße nun fast menschenleer.

Keine Frage: Mitten in der Pandemie samt geschlossenen Läden und Ausgangssperren sind leere Straßen keine Seltenheit. Doch auf der Johannisstraße würden selbst ohne Lockdown kaum Menschen bummeln. Auf dem Weg vom Neumarkt im Norden bis zur Johanniskirche im Süden lädt zwar ein Bioladen mit Tees, Säften und Vollkornbrötchen zum Eintritt ein. Auch ein grün gestrichener, leuchtender Supermarkt hat die Türen geöffnet. Doch umgeben sind die Geschäfte von verlassenen Mieträumen und leeren Läden. Eine Spielothek auf der einen Straßenseite, gegenüber ein Euroshop. „Zu vermieten“ und „Wir sind umgezogen“ steht auf Plakaten an den Geschäftseingängen, die Fenster sind mit roter Folie verdeckt. Im Lockdown steht die verlassene Johannisstraße wie ein Sinnbild für das langsame Verwelken der Innenstädte.

von Max Haerder, Henryk Hielscher, Melanie Raidl, Dieter Schnaas, Lukas Zdrzalek

Um das genaue Gegenteil zu erleben, sind nur ein paar Schritte nötig: Eine Straße weiter wird sichtbar, wie eine Innenstadt auch trotz Online-Boom funktionieren kann. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Die sogenannte Große Straße, bestückt mit bekannten Geschäftsketten, Restaurants, Cafés und Sitzmöglichkeiten mitten in der Fußgängerzone hat sich im Gegensatz zur Johannisstraße immer mehr als Anlaufpunkt der Innenstadt etabliert. Und zeigt etlichen anderen Innenstädten der Republik, wie zeitgemäßes Shopping selbst analog noch funktioniert. Gut, wenn da nicht Corona wäre.

Die Pandemie hat den Einkaufsmeilen, Freiluft-Shoppingzentren und Innenstadt-Plätzen in vielen Städten Deutschlands zweifelsfrei einen schweren Hieb versetzt. 200.000 Läden in Deutschland sind geschlossen. Branchenexperten warnen vor dem Aussterben. Rund 60 Prozent der Unternehmen in Innenstädten stünden ohne Unterstützung des Staates vor der Pleite. „Es zeichnet sich eine Pleitewelle ab, wie wir sie noch nicht erlebt haben“, heißt es beim Handelsverband Deutschland HDE. Modeketten wie Adler und Pimkie meldeten bereits Insolvenz an. Die Drogerie Douglas schließt mehr als 50 seiner 430 deutschen Filialen, verlagert sich immer stärker ins Internet. H&M entlässt etwa 800 Mitarbeiter in Deutschland. Die französische Modekette Promod beendet überhaupt den stationären Handel in der Bundesrepublik. Was nach der Pandemie übrig bleibt, wissen auch Branchenexperten nicht. „Die Innenstädte haben es mit einem dreifachen Tsunami zu tun: dem Strukturwandel im Einzelhandel, der Digitalisierung und der Corona-Pandemie“, betont der Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH), Boris Hedde.

Strukturwandel gibt es in Osnabrück allemal. Wer die Johannisstraße Richtung Norden hinaufgeht und an der Ecke zum Neumarkt steht, wird nur durch die stark befahrene Straße von der Fußgängerzone der Großen Straße getrennt. Bekannte Geschäftsschilder wie H&M, Zara und Snipes ragen über modernen, gläsernen Häusern. Die Straße ist so breit wie sechs SUV nebeneinander und vermutlich fast so sauber wie Singapur. Einige Menschen schlendern den Weg entlang. Natürlich ohne Einkaufstüten, dafür mit Coffee to go oder Essensboxen, die sie gerade bei der Burgerkette Peter Pane, Nordsee oder dem grünen Salat-Bistro auf der Straße abgeholt haben. Keine Busse, keine Baustellen, keine abgeklebten Geschäftsfenster. Stattdessen hohe Altbauten, in denen Filialen von Vero Moda, Tommy Hilfiger, Hunkemöller, Footlocker und Reno hausen.

Modehaus als Wirtschaftstreiber

Am auffälligsten glänzen die Buchstaben L&T auf einem runden, breiten Gebäude. Sie stehen für Lengermann & Trieschmann, das größte und älteste Kaufhaus der Stadt. Seit 111 Jahren ist das Familienunternehmen in Osnabrück beheimatet, zählt jährlich etwa sechs Millionen Besucher. Im Inneren herrscht selbst jetzt Hochbetrieb. Stockwerk für Stockwerk laufen Frauen und Männer mit Stiften, Notizblöcken und Headsets zwischen den Kleiderständern umher. Durch die Schließung wegen Corona ist Zeit für die Inventur. Mit dabei auch Geschäftsführer Mark Rauschen. Mode scheint der Familienunternehmer nicht nur zu verkaufen: In seinem karierten Blazer und der Slim-Fit-Hose könnte man ihn bei der Berliner Fashion Week verorten. L&T zählt zu den wichtigsten Wirtschaftstreibern der Stadt. 2019 setzte das Kaufhaus noch 75 Millionen Euro um, 600 Mitarbeiter arbeiten für das Unternehmen. „Wir hatten im Gegensatz zu anderen Unternehmen die besten Voraussetzungen“, sagt Kaufhausbesitzer Rauschen. Sämtliche Schulden sind abbezahlt, Miete muss er auch nicht zahlen.

von Bert Losse, Theresa Rauffmann, Max Haerder

Doch „auch die vollste Flasche Wasser in der Wüste ist irgendwann leer“, kommentiert Rauschen die Situation seiner Shopping-Mall im Herzen Osnabrücks. Zunächst hätte er solidarisch seinen eingemieteten Geschäftspartnern die Mieten gekürzt. Doch mittlerweile steht auch er finanziell am Rande des Möglichen. Neue Ware musste er im Oktober vertragsgemäß sieben Monate im Voraus bestellen. Zu groß wäre das Risiko, im neuen Jahr ohne aktuelle Kollektionen wiederzueröffnen. Jetzt sitzt er auf 25.000 Quadratmetern mit neu gelieferten Kleidungsstücken fest. „Kleidung ist wie Obst“, sagt der Modehändler, „sie ist verderblich.“ Ware, die jetzt modern sei, könne er nach der Pandemie allerhöchstens mit 30 bis 70 Prozent Rabatt verkaufen. Erst muss er sich um Lagerhallen kümmern. Denn Rauschen muss die unverkauften Kleidungsstücke extern lagern, um der neuen Bestellung Platz zu machen. Im Erdgeschoss, wo ein Tapas Laden und eine Smoothie Bar die hungrigen Kaufhausgäste an Samstagen stärken würden, füllen jetzt Kartons mit eingepackter Kleidung und aufgestapelte Restaurantstühle den Raum. „Die Luft ist raus“, bekräftigt der Geschäftsführer. Er erwarte in diesem Jahr einen Verlust in Höhe eines dreifachen Umsatzes.

Hoffnung auf die Zeit nach Corona

Umso mehr freut sich Rauschen auf die Wiedereröffnung. Vorausgesetzt die Politik würde seine Verluste ausgleichen, zur Not auch mit Krediten. Man müsse sich als Händler nun mit einer neuen Strategie auf eine Zeit nach Corona einstellen. Digitalisierung stärker einbinden, mehr nachhaltige Mode anbieten. Viele Menschen, meint Rauschen, würden während der Krise auch ihren Konsum überdenken. „Die Leute kommen dann nicht mehr wegen des einen blauen Pullis in die Innenstadt“, sagt Rauschen.

In einer neuen Abteilung für junges Publikum in seinem Kaufhaus bietet er nun Schuhe an, die auf Instagram versteigert werden. Social-Media-Nutzer könnten etwa Sneaker in Instagram-Posts sehen, die im Laden in Vitrinen ausgestellt sind. So verbindet Rauschen Digitalisierung mit Einkaufen vor Ort. Schon immer würden Menschen für ein Erlebnis in Innenstädte kommen wollen, sagt er. Selbst mit dem Onlinehandel-Boom und der Digitalisierung. In sein Kaufhaus baute er deshalb nach und nach Erlebnisse mit ein. Erst vor drei Jahren eröffnete L&T ein an das Kaufhaus angebundenes Sporthaus mit Kleidung für verschiedene Sportarten und eigenem Fitnessstudio. Besondere Aufmerksamkeit bekam der Neubau durch die sogenannte Hasewelle, ein Surfbecken mitten im Sportgeschäft, umrandet von Sitzreihen. Knapp 35 Millionen Euro investierte L&T 2018 in das Sporthaus.

Surfwellen, Instagram-Versteigerungen oder Cafés gibt es auf der alten Einkaufsstraße, drüben auf der anderen Seite des Neumarktes, nicht. Die Johannisstraße stirbt nicht nur wegen des Onlinehandels aus. Als sie in den Siebzigern zur Fußgängerzone umgebaut wurde, ließ die Stadt auch den Busverkehr weiter durchfahren. Die Folge: Ständig mussten die Straßen neu gepflastert werden. Baustellen machten sich breit. Nach der Schließung eines großen Kaufhauses ein paar Jahre später verlor die Johannisstraße viele Kunden. Mit der breiten, busfreien Großen Straße konnte sie nicht mehr mithalten. Doch Osnabrück gibt nicht auf.

Verlassene Einkaufsstraße wird Wohnraum

Im Rathaus wurde bereits ein Konzept fertiggestellt, um die Tristesse der früheren Einkaufsstraße zu beenden. Claas Beckord, Leiter der Stadtentwicklung in Osnabrück, möchte die Leute bald ohne zahlreiche Geschäfte zurück in die altbekannte Straße locken. Es ist bereits der zweite Anlauf der Stadt, die Johannisstraße neu zu gestalten. Zuvor hätte ein modern verglastes Einkaufszentrum entstehen sollen. Wie in der Großen Straße: zahlreiche Kleidungs- und Schuhläden in einer geschlossenen Mall. „Das Konzept Einkaufszentrum ist aber überholt“, sagt Beckord. Menschen bräuchten in den Innenstädten mehr als nur ein weiteres Gebäude voller altbekannter Geschäfte. Die Stadt entschied sich für einen Investor, der aus den Gebäuden, die in die Johannisstraße hineinführen Bürogebäude machen wollte. Mit ein paar Läden und Cafés. Im Rest des Gebäudekomplexes, der weit in die Johannisstraße verlaufen soll, sollen mehr als 400 Wohnungen entstehen. Auch betreutes Wohnen will die Stadt hier anbieten. Aus Einkaufsort wird Wohnraum – gut angebunden an die belebte Große Straße gegenüber.

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Dort beendet Mark Rauschen gerade seinen Rundgang durch das Kaufhaus in der angrenzenden Markthalle. Hier herrscht fast schon Post-Pandemie-Stimmung. Und diesmal sind es wirklich Kunden, die durch die Halle schlendern. Wie bei einem Samstagsmarkt verkaufen hier Bistros und Delikatessen-Händler ihre Speisen. Abholen und Mitnehmen darf man ja. Beim Wraps-Bistro stehen die Leute sogar Schlange, mit Maske und Abstand. Es ist fast 13.30 Uhr: Zeit fürs Mittagessen. Die jungen Frauen hinter der Theke wickeln die Weizenfladen rasch um Gemüse und Salat. „Bis morgen“, sagt eine Kundin, als sie ihren Wrap einpackt und aus der Markthalle eilt. Die Leute kommen wieder. Trotz der Pandemie.

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