Corona-Lockerungen in Tübingen Eine Woche Modellversuch: Wie steht es um das Tübingen-Experiment?

In Tübingen dürfen Theater, Geschäfte und Restaurants derzeit öffnen, begleitet von einer breit angelegten Teststrategie. Quelle: dpa

Eine Woche nach Beginn der Öffnungen in Tübingen wird die Stadt zum bundespolitischen Streitobjekt. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisiert den Modellversuch. Doch Unternehmer loben den Vorstoß.

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Lisa Federle ist hellwach. Wie immer, wenn sie von Tübingens Öffnungsstrategie berichtet. Viel Zeit zur Ruhe bleibt der Notärztin ohnehin nicht, denn „die Coronalage ändert sich stündlich“, sagt sie. Bereits kurz nach dem Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin, das am frühen Dienstagmorgen zu Ende ging, hatte Federle noch mit Baden-Württembergs Staatsministerium beschlossen, den Modellversuch, der weitreichende Lockerungen in der Universitätsstadt erlaubt, über Ostern zu unterbrechen. Zu groß schien ihr die Gefahr, dass die Aussicht auf ein bisschen Normalität zu viele Touristen über die Feiertage nach Tübingen getrieben hätte.

Denn hier im Südwesten dürfen Theater, Geschäfte und Restaurants derzeit öffnen, begleitet von einer breit angelegten Teststrategie. Wäre es bei dem verschärften Oster-Lockdown geblieben, hätte man aber auch das Coronalabor Tübingen „abriegeln“ müssen, sagt Notärztin Federle, auf deren Initiative der Modellversuch zurückgeht. Alles andere hätte sie „nicht verantworten“ können. Nun, nach dem bemerkenswerten Rückzug der Kanzlerin am Mittwoch, steigen die Chancen auf eine Fortsetzung wieder.

Ob Tübingen also doch über Ostern offenbleiben kann? „Das“, sagt Federle, „entscheiden wir in den kommenden Tagen mit Ruhe.“

Längst geht es in Tübingen um mehr als einen regionalen Sonderweg. Wenn es hier in der Neunzigtausend-Einwohner-Stadt tatsächlich funktionieren sollte, Infektionen in Schach zu halten und gleichzeitig einen Alltag fast wie vor der Pandemie zu ermöglichen – dann könnte das auch eine Strategie für das ganze Land sein, um sich aus der Lockdown-Depression zu befreien.

Die wachsende Sehnsucht nach der Rückkehr zur Normalität erklärt auch, warum das Tübinger Modell mittlerweile bundesweite Berühmtheit erlangt hat. „Wenn Deutschland gute Testkonzepte hätte, könnte man riskieren zu öffnen“, sagt auch Federle. Hat das Land aber bis heute nicht – also bleibt angesichts einer dritten Welle kaum mehr als die Verlängerung der umstrittenen Schließungen.

Dabei fordert die Notärztin schon lange umfangreiche Teststrategien. Bereits im Februar 2020 hatte sie in Alten- und Pflegeheimen Bewohner auch ohne Verdacht oder Symptome getestet. Fast täglich führte sie auf dem Tübinger Marktplatz in ihrem Arztmobil kostenlose Schnelltests durch. Vor kurzem setzte Federle hier das „Vier-Augen-Prinzip“ ein, bei dem ihr Team Lehrern und Unternehmern den Umgang mit Schnelltests erklärt.

Der SPD-Politiker Karl Lauterbach, selbst eine der markantesten öffentlichen Stimmen in dieser Pandemie, will sich der Faszination nicht anschließen. Er twitterte jüngst: „Auch Tübingen schafft es nicht. Die Tests für Schulen und Betriebe fehlen noch, der Aufbau dauert. Ausgangssperren bei einer Inzidenz über 100 zumindest ab 20 Uhr wären wirksam und unbürokratisch. Kommen werden sie später sonst ohnehin. Weil die Welle nicht vom Wetter gestoppt wird.“

Federle und Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, ebenfalls ein Freund steiler Thesen, wiesen die Äußerungen umgehend zurück. Lauterbach kenne „den Unterschied zwischen dem Landkreis Tübingen und der Universitätsstadt Tübingen nicht“, ließen die beiden per Pressemitteilung verbreiten.

„Als Rheinländer sei ihm das verziehen, aber seine These beruht auf den falschen Zahlen“, sagt Federle. Im Landkreis sei die Inzidenz tatsächlich gestiegen, in der Stadt aber liege sie „seit zwei Wochen in einem Korridor zwischen 20 und 30“. Und Palmer ergänzt, dass Tübingen Tests in Schulen „längst auf den Weg gebracht“ hat. Allein in dieser Woche würden dort mehr als 8000 Tests durchgeführt.

Sogar in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin fand die Stadt am Donnerstag Erwähnung: „Keinem Oberbürgermeister ist es verwehrt, das zu machen, was in Tübingen oder Rostock gemacht wird“, sagte Angela Merkel. So viel bundesweite Aufmerksamkeit ist Tübingen normalerweise nicht gewohnt, im Zentrum einer Debatte zu stehen erst recht nicht. Doch vor Ort kann sich das Duo Federle/Palmer auf Unterstützung verlassen – gerade auch aus der Wirtschaft, die schon so lange auf eine Perspektive pocht.



Christian Riethmüller etwa, Geschäftsführer der Buchhandlung Osiander, gehört zu den Fürsprechern. Er ist enttäuscht über den mangelnden Rückhalt des Politikers und Epidemiologen Lauterbach. „Warum kann man Tübingen nicht die Chance geben, eine neue Strategie zu wagen?“, fragt er. Riethmüller trägt Verantwortung für 65 Filialen in Süddeutschland, eine davon in Tübingen. Die Tests gäben seinen Mitarbeitern Sicherheit, erklärt er. „Es ist beruhigend zu wissen, dass nur Menschen in den Laden kommen, die niemanden anstecken können.“

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Da alle sonstigen Coronaregeln trotz der Tests weiterhin gelten, erhöhe sich das Infektionsrisiko in der Stadt nicht. „Ich sehe keine Gefahr“, sagt er, „dafür viele zuversichtliche Menschen“. Der Modellversuch sei vielmehr eine Chance, Hotspots zu vermeiden und „Menschen geschickt in der Stadt und auf dem Land zu verteilen“. Riethmüller hofft jedenfalls, dass die Geschäfte in Tübingen auch an Ostern geöffnet blieben, denn der Modellversuch „muss auch an hochfrequentierten Tagen funktionieren“.

Mehr zum Thema: In Tübingen sucht ein Modellprojekt nach Wegen aus dem Lockdown. Oberbürgermeister Boris Palmer wird schon als der Coronamanager der Republik gefeiert. Dabei stammen die entscheidenden Impulse von Notärztin Lisa Federle.

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