Corona-Shutdown Warum wir über den Wert des Lebens reden müssen

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Es geht nicht um ein Abwägen von Geld gegen Leben

Man kann sicherlich die konkret verwendeten Zahlen diskutieren, aber die Größenordnung von 355.000 geretteten Leben zeigt, dass der Shutdown sich in dieser rein ökonomischen Betrachtung nicht rechnet. Selbst bei einem schlimmeren Verlauf der Epidemie hätte man durch den Shutdown niemals eine so hohe Anzahl von Leben retten können. Geht man nämlich davon aus, dass in nächster Zeit kein Impfstoff verfügbar sein wird und wir in jedem Fall eine Durchseuchung bis zum Erreichen der Herdenimmunität erleben werden, verhindert der Shutdown ja keine Ansteckungen, sondern verschiebt sie nur in die Zukunft. Somit rettet der Shutdown nur dadurch Leben, dass er eine Überlastung der Intensivstationen verhindert, wovon wir derzeit sehr weit entfernt sind. Insgesamt trägt der Shutdown daher aufgrund der geringen Prävalenz der Erkrankung im Moment eigentlich gar nicht zur Lebensrettung bei. Selbst wenn in Kürze ein Impfstoff verfügbar sein sollte, kann der Shutdown in keinem Fall auch nur annähernd 355.000 Leben retten, was für eine ökonomische Sinnhaftigkeit erforderlich wäre.

Es geht dabei nicht um ein Abwägen von Geld gegen Leben, sondern um ein Abwägen von geretteten Corona-Erkrankten gegenüber geretteten Leben an anderer Stelle. Mit Investitionen in Höhe der Kosten des Shutdowns im Gesundheits- oder auch im Verkehrsbereich hätte man viel mehr Leben retten können. Damit wäre der Shutdown nicht nur ökonomisch sondern auch moralisch fragwürdig. Deshalb ist es fair, diese Debatte zu führen.

Warum hat der Shutdown in der Politik und auch in der Bevölkerung dennoch so viele Befürworter? Aus verhaltensökonomischer Sicht lässt sich das gut mit der Verfügbarkeitsheuristik erklären, die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky propagiert wurde. Diese Heuristik besagt, dass solche Risiken systematisch überschätzt werden, für die jemandem schnell Beispiele einfallen, etwa weil wie im Fall der Coronakrise die Medien ständig darüber berichten. Diese hohe Verfügbarkeit abschreckender Beispiele ist auch für Politiker ein Anreiz, für die Corona-Krise mehr Mittel zu verwenden als sinnvoll wäre, weil sich die Wähler länger an das Engagement erinnern werden. Bisher ist kein Mechanismus gefunden, mit denen man die schädlichen Auswirkungen der Verfügbarkeitsheuristik eindämmen kann. Die einzige Möglichkeit ist das Bereitstellen von sachlicher Information. Das Offenlegen ökonomischer Kosten und Nutzen ist ein Beitrag dazu.


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