Coronapandemie

Die verpatzte Impfkampagne

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Spahns Rolle in der „Jahrhundertaufgabe“

Es ist nicht nur nachteilig, die Deutschen politisch nicht mehr als „Schicksalsgemeinschaft“ adressieren zu können. Im Gegenteil. Im Blick zurück, etwa auf den Hurrapatriotismus von 1914, dürfen wir uns beruhigt fühlen. Mit Blick nach vorn aber, in der Hoffnung darauf, im Rahmen des Nationalstaats oder der europäischen Staatengemeinschaft geteilte Vorstellungen eines „guten Lebens“ entwickeln zu können, drohen die Regierenden die liberalen Demokratien auch im Jahr 2021 zu schwächen.

So hält uns Spahn seit Wochen mit Durchhalteparolen und Licht-am-Ende-des Tunnels-Phrasen bei Laune – und bringt mit dem „Impfstoff“ eine voraufklärerische Heilserwartung in Umlauf, der er weder genügt noch genügen kann. Spahn meint offenbar, die Schlucht, die das realpolitisch herbeigeführte Gegenwartselend überfüllter Intensivstationen von der herbeigesehnten Zukunft eines durchgeimpften Normalitätsparadieses trennt, nurmehr mit politischer Eschatologie überbrücken zu können. Dabei weiß jeder, dass dieses Land mindestens bis Herbst 2021 noch mit Corona leben muss. 

Näherliegend wäre, Spahn würde seine Kanzlerin beim Wort nehmen und sich der „Jahrhundertaufgabe“ als solider politischer Handwerker stellen – etwa indem er dafür sorgt, dass die Bundesländer fristgerecht mit Impfstoffen beliefert werden. Spahn hätte in seiner Eigenschaft als Gesundheitsminister durchaus auch auf die Idee verfallen können, für Europa oder Deutschland deutlich mehr Impfstoffe zu ordern. Gewiss, niemand wusste vor ein paar Monaten, welcher Hersteller wann mit einem wirksamen Präparat auf den Markt kommen würde – und es war richtig, die Bestellungen zu staffeln, nicht auf einzelne Anbieter zu wetten.

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Aber was hätte angesichts der „Jahrhundertaufgabe“ und der globalen Dimension der Pandemie etwa dagegen gesprochen, die „Impf-Bazooka“ auszupacken und alle überschüssigen Impfdosen den internationalen Impfallianzen (Gavi, Covax) zu spendieren? Oder was hätte dagegen gesprochen, wenn die EU schon beizeiten ein paar EZB-Milliarden für den Aufbau von Produktionskapazitäten bereitgestellt hätte? Dass die Europäische Union sich in diesen Tagen selbst abfeiert für die „solidarische“ Verteilung des Impfstoffs in Europa und Kritiker ihres Vorgehens sich den Vorwurf einhandeln, einem „Impfstoff-Nationalismus“ das Wort zu reden, ist angesichts der Milliarden die die EU für sonstwas bereitstellt und angesichts der ohnehin bestehenden Asymmetrien bei der globalen Distribution der Impfstoffe doppelt grotesk. 

Keine Chance also, dass Kafkas „Weg-von-hier“ in diesem Jahr doch noch wie ein Versprechen klingen könnte? Doch, die gibt es. Aber nicht mit Blick auf einen Impfstoff, von dem die Regierenden hoffen, er möge sie als Deus ex machina vom Regieren erlösen. Sondern mit Regierungsmut und Initiative, mit verkürzten Sommerferien zum Beispiel und einer verpflichtenden Kontaktnachverfolgung per Smartphone, mit der Ausweitung von Schnelltests, dem entscheidenden Schutz vulnerabler Gruppen oder speziellen Rechten für Geimpfte, was auch immer.

Eine antikenverliebte Philosophin wie Hannah Arendt hat Diskussionen und Entscheidungen noch mit viel Pathos als das Politische und Menschliche schlechthin empfinden können. Sie ermahnte uns, den politischen Raum tatkräftig zu füllen: Initiativ werden, etwas Neues in Bewegung setzen, sich gemeinsam mit anderen Menschen als weltschaffendes Subjekt verwirklichen, sich im sozialen Handeln glücklich als Individuum erfahren und Politik als gelebte Praxis steuernder Kontrolle begreifen, darum ging es ihr – und darum, der liberalen Demokratie ihre Lebendigkeit zu erhalten. Recht hat sie. Die Coronapandemie ist eine „ungeheure Reise“. Also los! Handelt! Versteht Euch als Beginner! Bringt was Neues in die Welt! Oder auch nur: Scheitert besser als im Jahr 2020! „Ut inicium esset, homo creatus est“, schreibt Arendt:Im Anfang liegt immer die Quelle der Freiheit.“

In diesem Sinne: Frohes Neues!

Mehr zum Thema: Der Run auf den begehrten Corona-Impfstoff hat begonnen. Hacker attackieren Hersteller. Und das organisierte Verbrechen ist ebenfalls auf der Jagd.


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