
„Seien wir doch mal froh, dass die Grundgedanken der Gesundheitsreform zu diesem Erfolg geführt haben“, sagte Seehofer in einem Interview mit der WirtschaftsWoche. „Bemühen wir uns doch mal, mit einer so beachtlichen Rücklage zu leben. Politiker sind in der Regel immer die ersten Räuber, die an eine Rücklage herangehen.“ Da hätten in der Vergangenheit alle Parteien gesündigt. „Mit dieser Tradition müssen wir brechen, jetzt.“ Entscheidend sei: „Wenn die Einnahmen aus der Praxisgebühr wegfallen, müssen wir früher oder später die Beiträge erhöhen. Und dieses Hü und Hott will ich nicht.“
Gleichzeitig räumte Seehofer aber ein: „Wenn sich der gute Trend verstetigt und die Rücklage weiter steigt, dann kann man daran denken, das Geld denen zu geben, die es am nötigsten brauchen: den chronisch Kranken, MS-Kranken, Krebskranken.“ Eine Abschaffung der Praxisgebühr lehnt der CSU-Chef dagegen ab. Das sei „grundfalsch! Das bekommt meine Zustimmung nicht.“ Stattdessen solle die Praxisgebühr unbürokratischer werden. Seehofer: „Wieso sollte es nicht möglich sein, mit einer Karte mit Magnetstreifen und einem Lesegerät einfach vom Konto abzubuchen?“
Auch eine Senkung des Solidarzuschlags lehnt der bayerische Ministerpräsident ab, selbst für den Fall, dass die SPD-regierten Länder die Milderung der kalten Progression im Bundesrat blockieren. „Wir haben ein Entlastungskonzept beschlossen, und das vertreten wir. Achterbahnfahrten sind noch keiner Regierung bekommen und führen mindestens zu Verstimmung.“ Notfalls will Seehofer die Steuerpolitik erneut zum Wahlkampfthema machen. „Der Staat verdient zu viel an der kalten Progression. Wir wollen den kleinen und mittleren Einkommen darum etwas zurückgeben. Wenn die SPD das torpediert – und danach schaut es aus –, wird das ein ganz zentraler Punkt im Wahlkampf.“
"Regierung, die eigene Beschlüsse nicht umsetzt, braucht man nicht"
Seehofer sieht beim Betreuungsgeld die Koalition in Gefahr. „Das Betreuungsgeld wird und muss kommen. Eine Regierung, die ihre eigenen Beschlüsse nicht umsetzt, braucht man nicht“, sagt Seehofer. Sollte das Betreuungsgeld nicht zustande kommen, wäre dies „mehr als ein Scheitern dieses Projektes“. Laut Seehofer wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Vereinbarung wackelt. „Und dann ist es nicht mehr weit bis zu dem Punkt, dass in der Koalition gar nichts mehr durchgesetzt wird. Ich sage das nicht vorwurfsvoll, sondern mit Sorge“, mahnt der bayerische Ministerpräsident.
Dann seien auch die anderen Bestandteile des Koalitionskompromisses vom November – die Steuerentlastung, die Reform von Pflegeversicherung und Zuwanderungsrecht sowie Verkehrsinvestitionen gefährdet.
„Koalition bedeutet, dass man aufeinander zugeht. Wenn ein Beschluss nicht realisiert wird, dann setzt das eine Spirale der Umsetzungsblockade in Gang. Davor kann ich nur warnen.“ Dem Koalitionspartner FDP bescheinigt Seehofer in der Auseinandersetzung Vertragstreue: „Die FDP verhält sich hier korrekt. Bemerkenswert bei dem, was die CDU hier aufführt. Da braucht man schon starke Nerven.“
Wahlkampf über Volksabstimmungen im Grundgesetz
Die CSU will Volksabstimmungen im Grundgesetz verankern und dies zum Wahlkampfthema machen. „Ich werde im nächsten Wahlkampf die Zustimmung der Bevölkerung dafür einwerben, dass wir in Deutschland Volksabstimmungen in wichtigen Fragen einführen“, sagte der CSU-Vorsitzende Seehofer der WirtschaftsWoche. „Die Zeiten sind vorbei, in denen eine bestimmte politische Elite alleine entscheiden konnte und sich bloß alle paar Jahre einer Wahl stellen musste.“ So sollten Grundfragen der europäischen Integration direkt von den Bürgern entschieden werden. „Europa war immer ein Projekt der Eliten, sonst wären wir nicht so weit gekommen mit der europäischen Integration. Aber heute geht das einfach nicht mehr“, so Seehofer. Er werbe dafür, „zu wesentlichen europäischen Entscheidungen in Deutschland Volksentscheide einzuführen, beispielsweise über die Erweiterung Europas , über die Abgabe von wichtigen Kompetenzen nach Brüssel und zu Grundfragen der Finanzhilfen.“ Derzeit arbeitet die Landesregierung an einer entsprechenden Initiative für den Bundesrat. „Wir feilen an diesem Werkstück“, sagte der Parteivorsitzende. Dafür bedürfe es aber der Unterstützung durch den Koalitionspartner FDP.
Mehr Bürgerbeteiligung sei auch wichtig, um den Wirtschaftsstandort Deutschland voran zu bringen. „Heute beteiligen wir die Bürger bei Großprojekten erst, wenn alles Wesentliche entschieden ist. Stuttgart 21 hat deutlich gezeigt, dass das nicht funktioniert“, kritisierte der bayerische Ministerpräsident. Künftig komme es darauf an, dass man bereits zu Beginn eines Projekts den Dialog führe. „Gegen mehr Bürgerbeteiligung wehren sich meistens nur die mit der geringeren Argumentationskraft.“