Daily Punch Eine Blamage für die Ampel – jedenfalls fast

Die Ampel hätte dem Unions-Antrag wohl zugestimmt. Chance vertan. Quelle: Imago

Die Union stand heute kurz davor, Bundeskanzler Olaf Scholz zu düpieren und einen spektakulären Coup zu landen – mit dem Vorschlag einer Impfpflicht für über 50-Jährige. Warum bloß rudert sie zurück?

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Es ist eine Blamage ersten Grades für die Ampelkoalition. Und die Union ist zurück im politischen Spiel, viel schneller als gedacht. Die Richtlinienkompetenz der neuen Bundesregierung in der wichtigsten innenpolitischen Frage dieser Tage? Sie liegt nicht mehr in den Händen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Superminister Robert Habeck (Grüne) und Schatzmeister Christian Lindner (FDP). Sondern in denen des CDU/CSU-Fraktionschefs. Ralph Brinkhaus gelingt ein „smarter Move“. Ein spektakulärer Coup. Er führt die Ampel im Nasenring durch die Berliner Manege. Alle Achtung.

So hätte es laufen können an diesem Dienstag. Hätte. Was war passiert? Der CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger hatte gegenüber der Funke-Mediengruppe angedeutet, dass die Union den Vorschlag der Ampel-Koalitionäre unterlaufe, die Abgeordneten in der Frage einer allgemeinen Impfpflicht von der Fraktionsdisziplin zu entbinden. Stattdessen strebe die Unions-Fraktion an, einen eigenen, von allen Unions-Parlamentariern getragenen Antrag einzubringen. Mit der Folge, dass die Initiative der Union die größten Chancen gehabt hätte, als Gesetz verabschiedet zu werden.

Denn bisher liegt dem Parlament nur der Vorschlag einiger FDP-Parlamentarier vor, die sich gegen eine allgemeine Impfpflicht wenden. Auf einen alternativen Entwurf aus den Reihen von SPD und Grünen pro Impfpflicht wartet das Land trotz aller Lippenbekenntnisse bisher vergeblich. Allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) haben vor einer anberaumten „Orientierungsdebatte“ des Bundestags in zwei Wochen bisher nur ihre Meinungen angedeutet, jedenfalls null Argumente vorgetragen, um die gesundheitspolitisch, verfassungsrechtlich, ethisch und verfahrenstechnisch komplexe Debatte zu vertiefen. Stattdessen haben sie sich so begründungslos für eine allgemeine Impfplicht ausgesprochen wie noch vor zwölf Monaten dagegen – und die Brisanz des gesellschaftlich konfliktgeladenen Themas verschärft. Das grenzt an Fahrlässigkeit im Amt.



Nun also führt die Union die Ampel vor – noch dazu mit einer Initiative, die der durch Omikron einmal mehr gründlich veränderten Pandemielage Rechnung trägt und alle zuletzt eifrig nickenden Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht wie eilfertige Wendehälse aussehen lässt. Dachte man. Bis die Union am Mittag zurückruderte und ausrichten ließ, sie lege doch keinen eigenen Gesetzesvorschlag vor.

Es ist eine verpasste Chance. Mit dem Vorschlag einer Impfpflicht für alle Deutschen ab 50 Jahren würde die Union nicht nur dem Beispiel Italiens und Griechenlands folgen, sondern auch in der Sache auftrumpfen: Eine Impfung schützt nach Lage der Dinge nicht mehr sonderlich gut gegen eine Infektion und gegen ihre Weitergabe, wohl aber gegen einen schweren Krankheitsverlauf. Damit verschiebt sich offensichtlich das Ziel einer Impfpflicht: Es geht nicht mehr darum, die Infektionszahlen zu senken, um das Gesundheitssystem vor seiner Überlastung zu schützen, sondern nur noch darum, das Gesundheitssystem vor seiner Überlastung zu schützen.

Die Union schien diese „Omikron-Wende“ für einen Moment verstanden zu haben – die Ampel noch nicht: Sie erweckt den Eindruck, das Thema so lange prokrastinieren zu wollen, bis es sich zuletzt von selbst erledigt haben wird. So oder so: Eine Impfpflicht für alle Menschen über 50 kann (auch nach Omikron) dem Ziel dienen, das Gesundheitssystem vor seiner Überlastung zu schützen. Sie schränkte nicht die Freiheit einer für unbotmäßig erklärten Minderheit, sondern einer medizinisch definierten Risikogruppe auf zumutbare Weise ein.

Sie schützte die Gesundheit der Geimpften und schonte die Nerven der Ärztinnen und Pfleger, sie schützte auch im nächsten Winter die Gesundheit von Unfall- und Krebspatienten, die nicht vor den Türen überfüllter Intensivstationen warten müssten und wies zugleich allen Deutschen den Weg zurück in ein „Leben mit dem Virus“. Sie wäre, eingedenk der Schwere der Krankheit, so etwas wie das verpflichtende Pendant zur freiwilligen Grippe-Impfung im Herbst – verbunden womöglich mit der Aussicht auf Befristung und Aufhebung, sollte sich der Trend des Virus in Richtung „endemische Lage“ und Abschwächung fortsetzen.

Und was wäre der Ampel geblieben? Sie hätte in dieser Debatte nur noch verlieren können. Szenario eins: Ein paar Sozialdemokraten und Grüne hätten alsbald eine allgemeine Impfpflicht vorgeschlagen. Das hätte zum Streit mit großen Teilen der FDP geführt: auf offener Parlamentsbühne. Szenario zwei: Die Ampel hätte sich hinter dem Wolfgang-Kubicki-Antrag versammelt, eine allgemeine Impfpflicht abgelehnt – und damit ihren Opportunismus (contra Impfpflicht, pro Impfpflicht, contra Impfpflicht) bestätigt. Szenario drei: Die Ampel hätte dem Unions-Antrag zugestimmt. Hätte. Chance vertan.

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