Was muss sich 2022 unbedingt ändern? Die WiWo-Redaktion hat darüber nachgedacht und präsentiert Ihnen „zwischen den Jahren“ fünf Vorschläge. Heute: Vorschlag 3 aus unserem Ressort Politik. Alle Vorschläge finden Sie unter wiwo.de/punch.
Dem deutschen Arbeitsmarkt gehen die Fachkräfte aus. Die geburtenstarken Jahrgänge verabschieden sich nach und nach in den Ruhestand und allein in den kommenden Jahren gehen den Unternehmen so fünf Millionen Beschäftigte verloren. Um die Lücke zu füllen, bräuchte es eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Menschen, zeigen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Und das ist mittlerweile eher konservativ geschätzt: Die neue Regierung will das Renteneintrittsalter nicht erhöhen.
400.000 Zuwanderer im Jahr. Damit diese Zahl keine Utopie bleibt, muss die Bundesregierung Deutschland endlich zu einem attraktiven Einwanderungsland für Fachkräfte machen. Schon jetzt ist in der Bundesrepublik nicht alles schlecht: Rein rechtlich zählt Deutschland inzwischen zu den für Fachkräfte offensten Ländern der Welt. Daher sollte die neue Regierung zuallererst etwas lassen: die Rechtslage zu verkomplizieren und intransparenter zu gestalten.
Genau die Gefahr besteht, wenn sie, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, „neben dem bestehenden Einwanderungsrecht auf Basis eines Punktesystems eine zweite Säule etablieren“ will, „um Arbeitskräften zur Jobsuche den gesteuerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen“. Denn diese Möglichkeit gibt es heute bereits für Menschen, die einen Studienabschluss oder eine berufliche Qualifikation nachweisen. Will man das bestehende System also nicht wieder restriktiver gestalten, sollte sich ein zusätzliches Punktesystem nur auf die Gruppe beziehen, deren Zuwanderung bislang nicht geregelt ist: Menschen, deren Qualifikation in Deutschland nicht anerkannt wird.
Ohnehin ist die Anerkennung ein wichtiger Hebel, um Deutschland attraktiver für Fachkräfte zu machen. Es ist zu bürokratisch, aufwendig und teuer für Menschen aus dem Ausland, ein Anerkennungsverfahren zu starten – besonders für Nicht-Akademiker, die eine berufliche Qualifikation nachweisen wollen. Papiere müssen beglaubigt übersetzt und vervielfältigt eingereicht werden, die Kosten summieren sich schnell auf vierstellige Euro-Beträge für ein Verfahren.
Dessen Ausgang ist zudem offen, da Ausbildungswege in kaum einem Land mit der deutschen Berufsausbildung vergleichbar sind – und Ämter je nach Einzelfall entscheiden. Hier muss die neue Bundesregierung ansetzen und Bürokratie abbauen. Denkbar wäre beispielsweise auch, Anerkennungskredite anzubieten, die nur bei erfolgreicher Anerkennung zurückgezahlt werden müssen.
Auch an anderer Stelle scheitert die Einwanderung von Fachkräften oft nicht an der Rechtslage, sondern an der Umsetzung. So muss die Ampel-Koalition dringend die deutschen Auslandsvertretungen besser ausstatten. Dort treten Menschen zum ersten Mal mit der Bundesrepublik in Kontakt, wenn sie ein Visum beantragen wollen. Es kann nicht sein, dass sie zum Teil Monate auf einen Termin warten müssen oder diesen nur per Zufallsgenerator in einem Losverfahren quasi gewinnen können. Man kann jede Fachkraft verstehen, die unter diesen Bedingungen entscheidet: „Den Versuch, nach Deutschland zu gehen, spare ich mir.“
Außerdem könnte der Bund so mit dem guten Beispiel vorangehen, die eigene Verwaltung endlich besser auszustatten. Denn natürlich entscheidet sich vor allem in den Städten und Gemeinden, ob es gelingt, mehr Menschen zum Arbeiten nach Deutschland zu holen. Zuständig für die Verfahren ist die lokale Verwaltung. Die Kommunen müssen endlich verstehen, dass Behörden mit ausreichend und qualifiziertem Personal sowie motivierte Verwaltungsmitarbeiter Standortfaktoren sind. Der über Jahrzehnte dominierende Geist, eine gute Ausländerbehörde sei die, die möglichst viele Ausländer abhält, muss endgültig verschwinden. Digitale Kommunikation muss Standard werden.
Dafür braucht es Geld, Schulungen und eine echte Willkommenskultur. Es reicht nicht, die Ausländerbehörde in Welcome Center umzubenennen – wenn die Mitarbeiter dort weiterhin mit Fachkräften aus dem Ausland kein Englisch sprechen.
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