Das kleine Chaos gegen das ganz große, so lautet die Ausgangslage des täglichen Kampfes auf dem Kölner Autobahnring. Wenn das kleine Chaos siegt, senkt sich eine weiß-rot gestreifte Schranke auf der Brückenauffahrt zur Rheinbrücke bei Leverkusen: Alle Fahrzeuge auf diesem Stück Autobahn müssen anhalten, innerhalb weniger Augenblicke entwickelt sich daraus eine Dynamik des abrupten Bremsens, Blinkens und so gewagten wie überflüssigen letzten Überholens, das sich über Hunderte Meter nach hinten verlagert. Bald steht alles. Und der Lkw, den die gesenkte Schranke an der Weiterfahrt hindern sollte, verlässt die Autobahn.
Mehr als 10 000 Mal ist der Kampf schon entsprechend ausgegangen in den knapp vier Monaten, seitdem die Schranke die Autobahnbrücke vor Überlastung durch Lkws schützen soll. Ein Sieg ist das aber noch lange nicht. „Wie viele Schwerbelastungen durch einen Lkw die Brücke noch aushält, wissen wir nicht. Jeder einzelne könnte die Brücke weiter schädigen“, sagt Thomas Raithel vom staatlichen Straßenbaubetrieb Straßen.NRW. Heißt: Das große Chaos braucht nur einen einzigen Treffer, und sein Sieg wäre endgültig.
Die Leverkusener Brücke ist nur eine von Hunderten maroden Brücken in Deutschland, und doch ist sie zum Symbol geworden: für die Versäumnisse der deutschen Politik beim Erhalt ihrer Infrastruktur. Denn seit vor gut vier Jahren klar geworden ist, dass die Brücke komplett neu gebaut werden muss, sind die dramatischen Konsequenzen des schludrigen Umgangs der Politik mit Brücken, Straßen und andererlei Verkehrswegen nicht mehr zu leugnen. Der Neubau der Brücke würde mindestens zehn Jahre dauern, das war damals umgehend klar. Und klar war auch, dass über die Brücke eine der wichtigsten Verkehrsachsen des Landes verläuft. Wirklich heikel aber wurden diese Informationen erst durch einen dritten Aspekt: Die zehn Jahre, welche der Neubau dauert, hält die Brücke nicht mehr aus. Deswegen ist sie nun für schwere Fahrzeuge gesperrt. Seitdem aber steht das große Chaos im Raum. Was wäre, wenn die Brücke für alle gesperrt würde? Wenn 100 000 Autos am Tag sich einen neuen Weg suchen müssten? Wenn die großen Fabriken von Ford im Westen und Bayer im Osten von jeweils einer Richtung nicht mehr zu erreichen wären?
Zustand der Brücken an Fernstraßen in Schulnoten
Nur 4,0 Prozent der Brücken an Fernstraßen sind in einem sehr guten Zustand.
Quelle: Bundesverkehrsministerium
9,8 Prozent der Brücken erhielten die Benotung "Gut".
Quelle: Bundesverkehrsministerium
Die meisten Brücken an deutschen Fernstraßen sind in einem befriedigenden Zustand. Mit der Schulnote 3 wurden rund 39,4 Prozent der Brücken bewertet.
Quelle: Bundesverkehrsministerium
Gerade noch akzeptabel ist der Zustand von 33,3 Prozent der Brücken. Sie erhielten die Note "Noch ausreichend".
Quelle: Bundesverkehrsministerium
"Nicht ausreichend" ist der Zustand von 11,8 Prozent der Brücken an Fernstraßen.
Quelle: Bundesverkehrsministerium
Die schlechteste Note "ungenügend" erhielten 1,7 Prozent der Brücken.
Quelle: Bundesverkehrsministerium
Innerhalb weniger Monate hat die Berliner Verkehrspolitik deswegen ihren Fokus grundlegend geändert. Der Erhalt von Straßen und Brücken ist von der lästigen Routine in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Anstatt über prestigeträchtige Neubauten profilieren sich Minister heute über Milliardenprogramme gegen Schlaglöcher. Im vergangenen Jahr hat der Bund beschlossen, in den nächsten 15 Jahren 270 Milliarden Euro in die Sanierung der wichtigsten deutschen Straßen zu stecken. Das erste große Projekt dieser neuen deutschen Betonwelle wird auch der dringendste Fall sein: die Brücke bei Leverkusen, wo die Bauarbeiten schon in diesem Jahr anfangen sollen. So eignet sie sich erneut als Symbol, diesmal für eine Epoche, die gerade erst anbricht: Kann die viel zu spät begonnene Renovierung der Infrastruktur noch ohne größere Nebenwirkungen gelingen? Schafft man es diesmal, all die Fehler zu vermeiden, die man bei den großen Investitionen der Vergangenheit begangen hat? Und wie muss sich diese Infrastruktur weiterentwickeln, damit sie nicht nur täglich Millionen Autos aushalten kann, sondern auch den heutigen Anforderungen an Mobilität und Lebensqualität in Städten genügt?
Die große Geldverteilungsmaschine
Im Rahmen der Möglichkeiten seines knurrigen Erscheinungsbildes hat Michael Groschek erkennbar gute Laune, als er Mitte Dezember vor die wichtigsten Unternehmer tritt, die sich in Nordrhein-Westfalen darum kümmern, Dinge von A nach B oder, häufiger, von Rotterdam nach Köln zu bringen. Der nordrhein-westfälische Verkehrsminister sagt: „Die Probleme der Zukunft unterscheiden sich grundsätzlich von denen der Vergangenheit, und das ist diesmal eine gute Nachricht: Der deutsche Straßenverkehr wird in den nächsten Jahren mit Geld geflutet, wir müssen jetzt zusehen, dass wir überhaupt dazu kommen, es auszugeben.“ Einmal im Jahr treffen sich die Bauunternehmer und Spediteure des Landes zum Verkehrskongress der Handelskammer Düsseldorf, für Groschek ein verlässlich unangenehmer Termin. Nirgendwo gibt es so viele Staus wie in seinem Bundesland, nirgends sind die Straßen in so schlechtem Zustand. Doch in diesem Jahr ist alles anders, schon auf dem Weg zum Podium erhält der SPD-Minister freundlichen Applaus.
Grund dafür ist der Bundesverkehrswegeplan, ein Hunderte Seiten schweres Ungetüm, an dem die interessierte Öffentlichkeit schon nach der zweiten Silbe ihr Interesse verliert. Dieses Desinteresse schien man lange auch in der Düsseldorfer Staatskanzlei zu teilen, und so ließ man es geschehen, dass das größte und am dichtesten besiedelte Bundesland in dem Plan nur eine untergeordnete Rolle spielte. Dabei ist dieser Plan eine gigantische Geldverteilungsmaschine. Was hier mit dem richtigen Buchstabenkürzel versehen ist, das wird gebaut. Und 2016 profitiert davon nach Jahren auch Groscheks Verantwortungsbereich, gut ein Viertel aller Gelder für den Straßenbau sollen in den kommenden Jahren nach NRW fließen. Groschek feiert das auf seine eigene Weise: „Vor uns liegt jetzt ein Jahrzehnt der Baustellen.“
Leider aber zeigt der Fall Leverkusen: Damit fangen die Probleme erst an.
Sanierung, das klingt ja erst mal unspektakulär. Die Straße oder Brücke ist schon da, sie muss nur wieder in Schuss gebracht werden. Untersuchungen, ob der Boden das Bauwerk trägt oder die Anwohner den Lärm aushalten, kann man sich sparen. In der Praxis aber ist es genau umgekehrt. „Erneuerungsbauten sind heutzutage zum Teil aufwendiger als neue Projekte“, sagt der Oberstraßenbauer Herr Raithel, „Sie brauchen genauso viele Genehmigungen wie bei einem Neubau und müssen sich zugleich noch überlegen, wie Sie während des Baus den Verkehr am Laufen halten.“ Um das nachzuvollziehen, genügt im Falle der Leverkusener Brücke schon ein kurzer Blick auf die Landkarte. Auf der westlichen Flussseite folgt auf die Brücke nach ein paar Kilometern das Autobahnkreuz mit der A 57, das allein wäre kein Problem. Auf der östlichen Seite aber liegt ein weiteres Autobahnkreuz, das sich direkt an die Brückenauffahrt anschließt und von den Bauingenieuren „Spaghettikreuz“ genannt wird. Die Ursache für die verworrene Form: Der Autobahnknoten windet sich um und über eine der gefährlichsten Mülldeponien Deutschlands.
Seit den Zwanzigerjahren hatte Bayer in dieser Gegend seine Abfälle verbuddelt, den Moden der Zeit entsprechend nahezu undokumentiert und ohne bekannte Auflagen. Stattdessen freute man sich gar noch über den praktischen Nebeneffekt, dass die Müllkippe den dahinter beginnenden Ortsteil Leverkusens vor Hochwassern schützte. Noch beim Bau der Brücke in den Sechzigerjahren nahm man die inzwischen geschlossene Müllkippe als Geländeunebenheit einfach hin, für den Bau des Autobahnkreuzes versuchte man die Eingriffe zwar gering zu halten, schnibbelte letztlich aber doch ziemlich freimütig darin herum.
Störfaktor in durchorganisierter Landschaft
Erst als man auch noch eine Wohnsiedlung auf der Kippe platzierte und es danach zu einer Häufung unerklärlicher Krankheiten kam, begann das Umdenken. Die Siedlung und der dazugehörige Kindergarten wurden abgerissen, die Kippe mit einer zusätzlichen Schicht versiegelt. Da liegt der toxische Müll im Prinzip sicher, bloß: Für die Sanierung der Brücke muss man wieder an die Kippe ran. Denn eine Sperrung der Autobahn würde ein Loch in den gesamten Kölner Ring reißen, der für den Verkehrsfluss im Bundesland quasi unersetzlich ist. Deshalb wird zuerst eine neue Brücke neben die alte gesetzt, um dann den Verkehr auf die neue zu leiten und währenddessen das alte Bauwerk zu ersetzen. So wird die Brücke erneuert und gleichzeitig die Autobahn von sechs auf mindestens acht Spuren erweitert. Der Preis dafür aber ist, dass das toxische Erbe des Chemiegiganten schon wieder angebuddelt werden muss. Da der Inhalt aber so stark mit giftigen Substanzen durchsetzt ist, muss während der Bauarbeiten ein Gebäude um die Grube errichtet werden. Der Boden wird zuletzt als Sondermüll der übelsten Sorte für viel Geld entsorgt.
Der Brückenbau zu Leverkusen zeigt damit in extremer Weise, was die Erneuerung der Infrastruktur in Deutschland so kompliziert macht. Straßen und Brücken stehen inzwischen seit Jahrzehnten an ihrem Platz, der einst für geeignet befunden wurde. Doch in der Zwischenzeit ist das Leben um sie herum weitergegangen, immer mehr Menschen sind in die Städte gezogen, Dutzende Wissenschaftler haben sich Gedanken gemacht über die Folgen großen Lärms und Schmutzes für die Gesundheit der Menschen und der Natur. Es folgten die passenden Gesetze. Und so bildet die Infrastruktur, welche die Menschen einst als Signal für den Aufbruch in eine neue, mobile Zeit begriffen hatten, plötzlich den Störfaktor in einer durchorganisierten Landschaft, die jedem Stück Deutschland seinen Zweck zuweist, den es zu erfüllen hat. Wo Menschen wohnen, soll es leise sein, die Luft sauber und die Straßen verkehrsberuhigt. Wo heute noch Natur ist, da heißt sie „Fauna Flora Habitat“ und daraus folgt: Der Mensch, wenn er nicht gerade Pilze sammelt, Radl fährt oder Windräder baut, hat sich fernzuhalten.
Wo Müll ist oder Industrie mit viel Lärm, da haben alle anderen viel Abstand zu halten. Nur die Straße passt nicht so wirklich in dieses Schema. Denn einerseits soll sie stets in der Nähe sein, um gut angebunden zu sein. Aber bitte nicht direkt hinter meinem Garten.
Würde man die Autobahn nördlich von Leverkusen heute noch einmal bauen, es gäbe für sie einen sehr viel geeigneteren Korridor ein paar Kilometer weiter um den Stadtteil herum, den sie heute von der Innenstadt trennt. Die Müllkippe würde man vielleicht abreißen und stattdessen das Flussdelta der Dhünn renaturieren. Könnte schön werden.
Aber nun ist die Brücke eben da, wo sie ist, im Norden ist längst ein Naturschutzgebiet, und die Müllkippe abzuräumen wäre ohnehin viel zu teuer, seit sie versiegelt ist. Also ist alles kompliziert.
So kompliziert, dass Hannelore Kraft den Hintereingang wählen muss, als sie kurz vor Weihnachten in anderer Sache nach Leverkusen kommt. Der Bayer-Konzern feiert sein 150-jähriges Firmenjubiläum im Bayer-Erholungsheim, einem Jugendstilbau, den der Konzern einst für die Arbeiter im Werk erbaute und dann den Bürgern der Stadt übereignete. Doch von Dankbarkeit keine Spur. Zu Hunderten pusten die Demonstranten in ihre Trillerpfeifen, wenn immer sich eine der vielen dunklen Audi-Limousinen dem Gebäude nähert. Die SPD-Ministerpräsidentin Kraft wollen sie sehen, um ihre simple Botschaft zu überbringen: Hände weg von der Deponie, am besten ganz weg mit der Brücke und stattdessen ein langer Tunnel.
„Wir Leverkusener haben immer nur den Mist abbekommen,..."
Am Ende ziehen sie enttäuscht von dannen, die Ministerpräsidentin, die den Kontakt zum Volk für gewöhnlich so schätzt, hat sich diese Konfrontation erspart. „Wir Leverkusener haben immer nur den Mist abbekommen, sodass man irgendwann wohl gedacht hat, mit denen kann man auch alles machen“, sagt eine der Pfeiferinnen, die sich als Bewohnerin eines der nahe liegenden Arbeiterhäuser ausgibt, „wir wollen jetzt, dass man auch mal an uns denkt.“
Wer den Stadtplan Leverkusens betrachtet, dem erscheinen solche Aussagen unmittelbar plausibel, auch ohne größere Ortskenntnis. Eigentlich gibt es nicht ein Leverkusen, sondern acht verschiedene, getrennt durch die Mauern der Mobilität. Von Ost nach West zerschneidet die A 1 in zwei nahezu gleich große Teile, die wiederum in jeweils vier Abschnitte geteilt sind durch die Zugstrecke Düsseldorf–Köln, die Autobahn 3 und die Gütermagistrale Rotterdam–
Basel. Und auf keiner dieser Trassen rauscht der Verkehr von oder nach Leverkusen, sondern immer nur mitten durch. Eine der Autobahnen führt gar auf Stelzen durch die Stadt, fast als wolle man sicherstellen, dass der monotone Lärm auch wirklich keinem entgeht. Im Vergleich zu dieser Belastung ist der Protest geradezu zurückhaltend. Und genau das ist wohl das Problem der Demonstranten.
Denn das deutsche Recht sieht ein Mittel vor, um Bürgersorgen zu berücksichtigen: Für jedes größere staatliche Bauprojekt braucht es ein Planfeststellungsverfahren, das alle Interessen gegeneinander abwägen soll. In Leverkusen wurden also verschiedene Brückenvarianten geprüft und auch ein Tunnel, doch am Ende stand: Die Brücke, so wie sie jetzt da steht, ist die beste Variante. So ganz glauben mag das in der Stadt keiner, vor allem seit man sich die Geschichte aus dem Wahlkreis des zuständigen Bundesministers erzählt, Alexander Dobrindt (CSU).
Protest gewinnt – wenn er laut ist
Bürgerbeteiligung ist eines dieser Zauberwörter, um die sich die Politik in den vergangenen Jahren sehr bemüht hat. Sie leiden unter Politikverdrossenheit? Probieren Sie es mal mit etwas mehr Bürgerbeteiligung. Das hat insofern tatsächlich gut funktioniert, als es inzwischen viele Bürgerentscheide gibt und manche Konflikte danach tatsächlich friedlicher zu Ende gehen. Es hat die Politik aber auch mit einer Angst vor dem Bürger ausgestattet. Denn so leicht sich die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung ausspricht, so unangenehm kann eine verlorene Abstimmung sein. Je lauter die Bürger also protestieren, desto größer ist die Chance, dass die Politik ihnen nachgibt, um eine Niederlage zu vermeiden. Das aber hat den Nutzen der Bürgerbeteiligung auf den Kopf gestellt. Das Mittel, gedacht zur Objektivierung der Entscheidungsfindung, hat sie willkürlicher gemacht. Denn es wird nicht mehr abgewogen, wie begründet der Bürgerwille ist – sondern allein nach taktischem Kalkül entschieden: Wie laut ist der Protest?
Das große Sanierungsprogramm der deutschen Infrastruktur ist deshalb auch ein Prüfstein dafür, wie weit dieser Siegeszug der politischen Taktik über die juristische Objektivität bereits fortgeschritten ist. Die Geschichte, die sie sich dazu in Leverkusen erzählen, geht wie folgt:
Ungerechter Bundesverkehrswegeplan
In dem gleichen Bundesverkehrswegeplan, in dem Verkehrsminister Dobrindt für eine Brücke und gegen einen Tunnel in Leverkusen entschieden hat, finden sich auch Projekte aus seinem Wahlkreis: die Ortsumfahrungen von Garmisch und Oberau zum Beispiel. Allein die fast ausschließlich durch Tunnel mögliche Entlastung der 3000-Seelen-Gemeinde Oberau vom Lärm der Bundesstraße lässt sich der Bund mindestens 200 Millionen Euro kosten, die 150 000 Leverkusener dagegen sollen eine der meistbefahrenen Autobahnen des Landes auch weiterhin, auf Stelzen thronend, mitten in der Stadt bewundern dürfen.
Von der formalen Bürgerbeteiligung, die am Ende die Interessen der Bürger ungehört verhallen lässt, ist derweil nur eines geblieben: die Komplexität des Verfahrens. Schon das Ziel, die beiden Brücken in Leverkusen innerhalb von zehn Jahren zu erbauen, gilt als außerordentlich ambitioniert. Und wird nur durch eine Sonderregelung möglich. Extra für den Fall Leverkusen wurde im vergangenen Jahr eine Abkürzung auf dem juristischen Instanzenweg geschaffen. Die Einsprüche gegen das Projekt werden gleich vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt, der erste Schritt vor lokalen Gerichten entfällt. Dieses Kurzverfahren ist offenbar auch anderswo dringend nötig, um die ächzende Infrastruktur über die Zeit zu retten, gerade erst hat das Bundesverkehrsministerium weitere 15 Projekte benannt, für welche die Ausnahme gelten soll. Die Sonderbehandlung wird damit zur Regel und beweist so zugleich, dass die Art und Weise, wie Bauplanung in Deutschland ablaufen soll, schon lange nicht mehr praxistauglich ist. Oder, wie NRW-Minister Groschek schimpft: „In Dänemark können sie mit einem Schnellhefter an Akten eine neue Brücke bauen – in Deutschland brauchen sie ein Billy-Regal.“
Das nächste Dilemma der Politik
Doch während die Politik hier zumindest mal ein Hindernis auf dem beschwerlichen Weg zur sanierten Republik abbaut, schafft sie sich an anderer Stelle ein neues. Im Herbst erst haben Bund und Länder sich auf eine neue Verteilung von Geld und Kompetenzen untereinander geeinigt. Teil des Kompromisses: Ab 2020 ist der Bund alleine für den Bau und Betrieb von Autobahnen verantwortlich. Wie genau diese Autobahnbehörde aussehen wird, ist noch völlig unklar, die negativen Folgen der Übergangszeit sind schon jetzt zu spüren.
Auf einem Parkplatz am Rande des Geländes der Aachener Universität findet in diesen Tagen die Firmenkontaktmesse statt. Was früher eine erste Chance für Studenten war, ihre Bewerbungsmappe abzugeben, ist heute ein gigantischer Wettbewerb der großen Konzerne des Landes um die begehrten Ingenieure. Mehr als 300 Unternehmen bezahlen diesmal viel Geld, um zumindest ein paar der begehrten Studenten in ein Gespräch zu verwickeln. Wer es sich leisten kann, bleibt drei Tage mit seinem Stand in den großen Messezelten und bucht noch den Vortragsraum.
Nachwuchs ist schwierig zu finden
Auch „Straßen.NRW“ wirbt hier um Studenten, doch für mehr als einen Tag und drei Meter Standfläche reicht das Budget offenbar nicht. Auch mit guten Argumenten tun sich die beiden Personaler am Stand schwer: Im Vergleich zur freien Wirtschaft ist das Gehalt ohnehin mickrig, sicher ist hingegen die Abwicklung in drei Jahren. Was bleibt, ist der Vorzug des Beamtenverhältnisses. Doch eine Jobgarantie haben die Aachener Ingenieure mit dem Abschluss ohnehin quasi in der Tasche. Da es bei Straßen.NRW noch nicht mal Bonbons gibt, bleibt der Stand fast unbesucht.
Seit Jahren tun sich die Landesverwaltungen schwer dabei, guten Nachwuchs für ihre Baubetriebe zu finden. Dass jetzt mitten im großen Sanierungsprogramm auch noch die Organisation neu aufgestellt werden soll, verschärft die missliche Lage. Im Falle von Leverkusen steht dieser Wandel gar mitten im Projekt an. „Wenn ich Glück habe, dann kann ich 2020 noch den ersten Brückenteil eröffnen“, sagt Landesminister Groschek. Heißt auch: Wenn er kein Glück hat, dann kommt zum generellen Zeitdruck auch noch das akute Organisationschaos hinzu. Denn weder die Frage, was ab 2020 mit den Mitarbeitern der Landesbetriebe geschehen soll, noch woher die Beschäftigten der neuen Bundesbehörde kommen sollen, ist bisher klar.
Uwe Richrath übt sich dennoch in Gelassenheit. Im Büro des Oberbürgermeisters mitten in der Leverkusener Innenstadt ist das Rauschen der Autobahn stete Geräuschkulisse, falls es nicht gerade von den ein paar Dezibel lauteren Güterzügen durchbrochen wird. Ob ihn der Lärm nicht beim Arbeiten stört? „Welcher Lärm?“, antwortet Richrath, und es ist nicht klar, ob das noch rheinische Ironie oder schon die ebenso typisch kölsche Problemignoranz ist.
Richrath sieht den Brückenbau als eine Wahl zwischen mehreren hässlichen Szenarien. „Wenn die Brücke vollständig gesperrt wird, dann wäre das für Leverkusen ein Desaster. Denn der Verkehr würde sich komplett in die Stadt hinein verlagern.“ Deshalb sieht er es als seine oberste Pflicht an, den Bau zu beschleunigen. „Ob es zumindest hinter der Brücke noch einen kleinen Tunnel gibt, haben wir nicht selbst in der Hand“, sagt Richrath und beschwört die Kräfte der rationalen Politik. „Ich vertraue darauf, dass der Bundestag die Gesundheit der Menschen hier ernst nimmt.“
Für Richrath wie für die pragmatischeren unter den Leverkusener Bewohnern ist vor allem wichtig, dass irgendwann mal Schluss ist mit all den Baustellen auf den Trassen in ihrer Stadt. Seit den Achtzigerjahren wird eigentlich durchgehend am Kölner Ring herumgebastelt. Derzeit läuft der Ausbau auf acht Spuren, die Brücke ist da nur ein Lückenschluss. Bloß, war es das dann auch?
„Wir wissen natürlich auch nicht, wie sich der Verkehr in der Zukunft tatsächlich entwickelt“, sagt Planungschef Raithel. „Aber wir vertrauen auf unsere Prognosen.“ Die besagen: Der Autoverkehr wird nicht mehr deutlich zunehmen, dafür wächst der Lkw-Verkehr weiter kräftig. Entsprechend bauen sie die neue Brücke: Bis zu fünf Streifen pro Fahrtrichtung kann sie aufnehmen, die Träger liegen dabei anders als bei älteren Bauwerken außen, wo die Lastwagen die größte Belastung verursachen. Klingt opulent, und das ist wohl auch eine der Lehren aus der bitteren Vergangenheit. Als die Brücke Mitte der Sechzigerjahre gebaut wurde, passierten sie pro Tag gut 10 000 Fahrzeuge. Also baute man die Brücke für höchstens 40 000 auf zwei Spuren je Richtung, Lastwagen wurden gar nicht als gesonderte Belastung bedacht. Schon zehn Jahre später war die vermeintliche Obergrenze erreicht. Doch solange das Bauwerk hielt, vertraute man darauf, dass es sich nicht beschwerte.
Der Preis: Selbst wenn in nächsten Jahren nun alles hält, wie es soll, wird die Brücke am Ende kaum die Hälfte ihrer geplanten Lebensdauer erreicht haben. In verschwendete Millionen umrechnen sollte man das besser nicht.