Debatte um Kindergrundsicherung „Wir geben schon eine Billion für Soziales aus – unser Problem ist nicht das Geld“

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Kinderarmut bedroht – die geplante Kindergrundsicherung soll dem entgegenwirken. Quelle: imago images

Die Kindergrundsicherung entwickelt sich zu einem Kernstreitpunkt der Ampel. Hier erklärt FDP-Politiker Jens Teutrine, warum die Liberalen die 12-Milliarden-Pläne der Grünen bislang blockieren.

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WirtschaftsWoche: Herr Teutrine, das Familienministerium veranschlagt für die geplante Kindergrundsicherung 12 Milliarden Euro. Das lehnt Finanzminister Christian Lindner ab. Ist der FDP die Kinderarmut egal?
Jens Teutrine: Selbstverständlich nicht. Es ist uns ein Herzensanliegen, Kindern, die in Armut aufwachsen, Perspektiven, Lebenschancen und soziale Teilhabe zu eröffnen. Es entspricht unseren liberalen Werten, dass nicht der Zufall der Geburt über Chancen im Leben entscheiden sollte. Fast nirgendwo sonst bestimmt die familiäre Herkunft den Lebensweg so wie in Deutschland. Im Land der sozialen Marktwirtschaft mit ihren Aufstiegsversprechen ist das eigentlich der größte Gerechtigkeitsskandal. Der Schlüssel für soziale Mobilität ist ein verbessertes Bildungssystem – ob Kita, Schule, Ausbildung oder Universität. 

Ums Bildungssystem geht es aber in dieser Debatte nicht. Unternimmt der Staat zu wenig gegen Armut?
Leider geht es in dieser Debatte zu wenig um das Thema Bildung. Obwohl dies das nachhaltigste Mittel gegen Kinderarmut ist. Aber zu ihrer Frage, ob der Staat zu wenig gegen Armut unternimmt: Das Problem ist weder, dass der Finanzminister zu knickrig, noch dass der Sozialstaat unterfinanziert ist. Wir geben insgesamt über 1 Billion Euro unserer Wirtschaftsleistung für Soziales aus, knapp ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Das Problem ist ein anderes: Der Sozialstaat ist dysfunktional. Wir treffen nicht zielgenau diejenigen, die wirklich Unterstützung brauchen. Wir ersticken in Bürokratie. Es gibt 150 verschiedene familienpolitische Leistungen. Dieses Bürokratielabyrinth verschwendet nicht nur viel Geld. Sondern auch kein Mensch blickt da wirklich durch. Wenn man das Gefühl hat in diesem System gefangen zu sein, frustriert und entmutigt das Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche.

Geben Sie ein Beispiel.
Das Bildungs- und Teilhabepaket. Kinder und Jugendliche, die bedürftig sind, können damit soziale Teilhabe beantragen, also zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Sportverein, Nachhilfeunterricht oder Geld für die Klassenfahrt. Also genau das, was Kindern in Armut wirklich hilft. Es werden aber nicht einmal 20 Prozent der Mittel beantragt.

Zur Person

Woran liegt das?
Das hat verschiedene Gründe: Betroffene wissen zum Teil nicht, dass sie überhaupt einen Anspruch haben. Das kann auch daran liegen, dass es Eltern gibt, die sich nicht kümmern. Oder dass sie von der mühseligen Bürokratie überfordert sind. Gleichzeitig ist die Verwaltung unheimlich teuer, ein Drittel der Kosten sind Verwaltungskosten. 

Wie lässt sich das ändern?
Wir brauchen eine Generalinventur des Sozialstaates. Er muss vereinfacht werden. Heißt: Die 150 verschiedenen Leistungen müssen gebündelt werden. Anstatt immer nur über Geldsummen und höhere Leistungen zu sprechen, würde ich mir wünschen, dass wir über die strukturellen Probleme des Sozialstaats sprechen. Das wurde auch im Koalitionsvertrag so vereinbart.

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von Bert Losse

Was stört Sie am Vorschlag der Familienministerin?
Sie hat bisher kein funktionierendes Konzept für die Kindergrundsicherung vorgelegt. Wofür sie das viele Geld fordert, ist unklar. Auf die Nachfrage von Abgeordneten und Journalisten, wie Lisa Paus auf den Betrag von 12 Milliarden Euro kommt, gibt es keine ordentliche Antworten. Sie macht ihre Berechnungen nicht transparent und sagt, dass sie die 12 Milliarden Euro nicht aufdröselt. Das wird dem Thema nicht gerecht. Ich fände es angemessen, zu erfahren, wie viele Kinder mit dem Geld konkret aus der Armut geholt werden sollen. Darüber erteilt sie aber keine Auskunft – genauso wenig wie über die Höhe der Kindergrundsicherung. Deshalb wäre es falsch, wenn der Finanzminister jetzt einen Blankoscheck ausstellt.

Finanzminister Lindner schafft ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, 12 Milliarden Euro für Kinder lehnt er aber ab. Wie passt das zusammen?
Im Moment geht es nicht um eine Kindergrundsicherung in Höhe von 12 Milliarden Euro, sondern von Mehrausgaben im ersten Jahr von 12 Milliarden Euro. In weiteren Jahren von bis zu 24 Milliarden Euro. Bei der Bundeswehr reden wir von einer einmaligen Investition in Höhe von 100 Milliarden Euro. Und: Sozialleistungen betragen jetzt schon 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts, der Anteil an der Verteidigungsfähigkeit nicht mal zwei Prozent. Aber eine Gemeinsamkeit gibt es: Unser Sozialstaat ist wie das Beschaffungswesen der Bundeswehr. Geld wird nicht sinnvoll verwendet und beides gehört reformiert. 

Sie setzen also allein auf weniger Bürokratie?
Der Zugang muss vereinfacht und die Beantragung digitalisiert werden, damit wir zielgenau auch die unterstützen, die es wirklich benötigen. Aber nur das bestehende System zu entbürokratisieren, hat zwar einen wichtigen Effekt, aber reicht auch noch nicht aus. Da bin ich pessimistisch. Der Wirrwarr von Leistungen und Behörden würde bleiben. Deshalb ist es meiner Meinung nach sinnvoll, das System grundlegend zu reformieren, also die Sozialleistungen zu bündeln. 

Das Chaos um die Einmalzahlung für Studierende zeigt, wie schwer sich Behörden mit Onlineportalen tun. Kann eine Bündelung der Sozialleistungen auf einem zentralisieren Antragsportal funktionieren?
Ja, es ist mühselig digitale Strukturen aufzubauen. Mit Blick auf unsere Behörden klingt das immer wie Science-Fiction. Andere Länder machen aber vor, dass es funktionieren kann. Zum Beispiel Estland oder Teile der USA. Die sind viel weiter in Bezug auf die Digitalisierung des Sozialstaates.



Wenn alle Berechtigten ihre Leistungen in Anspruch nähmen, kämen dann nicht enorme Kosten auf den Staat zu?
Nach meinen Berechnungen sind es zwischen drei und fünf Milliarden Euro, wenn jeder die Leistungen bekommt, auf die er Anspruch hat. Aber: Wer es ernst meint und Bürokratie wirklich abbauen will, so wie es im Koalitionsvertrag steht, der spart auch Geld. Das kann einen Beitrag zur Gegenfinanzierung leisten. Übrigens ist die FDP nicht dagegen, dass Leistungen in Anspruch genommen werden. Der Finanzminister hat bereits klargestellt, dass er das Ziel teilt, das System zu vereinfachen, wodurch auch die Inanspruchnahme von gewissen Leistungen, wie das Bildungs- und Teilhabepaket, erhöht. Wenn sich Lisa Paus darum kümmern würde, könnte Christian Lindner das auch gar nicht blockieren, weil es die Rechtsansprüche ja bereits gibt. Bei den 12 Milliarden zusätzlichen Mehrausgaben geht es um ein generell höheres Leistungsniveau. Wofür aber genau? Dazu hat die Familienministerin kein funktionierendes Konzept. 

Sie rechnen aber ohne eine Erhöhung der Sozialleistungen. Muss man die Leistungen nicht der gestiegenen Lebenserhaltungskosten anpassen?
Wir haben bereits im vergangenen Jahr für Familien und Kinder sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung gestellt. Nicht nur, aber beispielsweise wurde das Kindergeld auf 250 Euro erhöht, so stark wie seit 1996 nicht mehr.

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Kritiker bemängeln, dass das Kindergeld gar nicht bei den Hilfsbedürftigen ankommt, weil es auf das Bürgergeld angerechnet wird. 
Es stimmt, dass das Kindergeld bei Menschen mit Bürgergeld nicht ankommt, weil es verrechnet wird. Bei anderen Leistungen wie beim Kinderzuschlag aber schon. Aber auch die Regelsätze des Bürgergelds wurden erhöht – auch für Kinder. Je nach Altersstufe zwischen 33 und 44 Euro. Zusätzlich erhalten alle diese Kinder inzwischen einen Kindersofortzuschlag von 20 Euro pro Monat. Die Behauptung, Finanzminister Lindner hätte über das Kindergeld mehr Geld an alle ausgegeben, aber nicht an diejenigen, die Bürgergeld beziehen, stimmt also nicht.

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