Debatte um Mehrwertsteuer Erhöht endlich die Hartz-IV-Sätze!

Bevor der Staat auf die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel verzichtet, sollte er lieber die Hartz IV-Sätze anpassen. Quelle: dpa Picture-Alliance

Die Kosten für Brot, Obst und Gemüse steigen. Aber eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel wäre nichts anderes als ein Lobbygeschenk. Stattdessen sollten wir lieber über die Sätze für Sozialhilfe und Arbeitslose diskutieren. Ein Kommentar.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die Summen auf dem Kassenzettel werden immer höher. Die Preise für Lebensmittel steigen – stark. Marktforscher beobachten, dass deshalb bereits mehr Menschen ihre Einkäufe beim Discounter erledigen, um noch ein paar Euro zu sparen. Deshalb ist es nur verständlich, dass Lebensmittelindustrie und auch Sozialverbände nun erklären, dass der Staat dringend eingreifen müsse. Die beliebteste Forderung: Der Staat solle auf die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel verzichten. Null Steuern auf Obst und Gemüse! Das unterstützt selbst Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne).

Der Reflex ist verständlich: Milch, Eier, Butter und Brot, auch Obst und Gemüse, sind so teuer wie nie zuvor. Und die Preise werden weiter steigen, weil Futtermittel und Energie teurer werden. Menschen, denen nicht viel Geld zur Verfügung steht, leiden darunter. Aber dass deshalb der Staat nun auf die Mehrwertsteuer für Lebensmittel verzichten soll, ist Blödsinn – aus einer Vielzahl von Gründen:

Erstens können wir nicht voraussetzen, dass Handel und Hersteller diese Ersparnisse überhaupt an die Verbraucher weitergeben. Es könnte gut sein, dass sich an den Preisschildern im Supermarkt kaum was ändert – und sich nur die Kassen der Händler und der Lebensmittelindustrie füllen.

Lesen Sie auch: Aldi-Einkäuferin verrät ihre Verhandlungstricks

Und was ist überhaupt ein Grundnahrungsmittel? Ein Apfel – aber was ist mit Apfelsaft? Milch bestimmt – aber was ist mit süßem Fruchtquark, Kakaodrinks oder Eiscreme? Kartoffeln sind für die Deutschen bestimmt ein Grundnahrungsmittel, aber sollte deshalb auch die Steuer auf Tiefkühlkroketten gesenkt werden? Sollen wir die Steuern auf Brot senken, aber für Croissants nicht? Lobbyisten dürften um jedes einzelne Produkt erbittert ringen, damit ihre Auftraggeber irgendwie auch noch von der Steuersenkung profitieren. Das bringt das Risiko mit sich, dass wir noch mehr Steuerchaos schaffen. Oder sogar die Steuern für Produkte senken, deren Produktionskosten gar nicht so viel teurer geworden sind.

Und selbst wenn Handel und Hersteller die Steuerersparnisse weitergeben: Dann würde davon jeder profitieren, der Äpfel und Apfelsaft kauft. Egal, ob derjenige 100 Euro auf seinem Konto hat oder 100.000 Euro. Dabei sollten wir nicht vergessen: Auch wenn die Lebensmittelpreise nun steigen, geben die Deutschen im Vergleich zu anderen Europäern doch nur einen vergleichsweise kleinen Teil ihres Einkommens für Nahrung aus. Nach Daten von Eurostat gaben die Deutschen 2020 im Durchschnitt zwölf Prozent ihrer Konsumausgaben für Lebensmittel und Getränke aus. In Frankreich waren es schon 15 Prozent, die Italiener gaben 16,9 Prozent aus, in Polen lag der Satz bei 17,9 Prozent. Und die Menschen in Rumänien geben jeden vierten Euro für Lebensmittel aus.

Dieser Vergleich zeigt: Menschen mit einem hohen Einkommen sollten durchaus Spielraum haben, sich teurere Lebensmittel zu leisten – und damit zum Beispiel auch die Transformation der Landwirtschaft zu unterstützen.

Deshalb sollten wir lieber über Maßnahmen diskutieren, die tatsächlich ärmere Menschen entlasten. Der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger für Lebensmittel liegt bei ungefähr 5,19 Euro am Tag. Durch das Entlastungspaket der Bundesregierung bekommen zwar auch Arbeitslose eine Einmalzahlung. Doch eine langfristige Anpassung der Sätze an die Inflation ist nicht vorgesehen.

Bevor wir also Steuersenkungen mit der Gießkanne über den Lebensmittelsektor schütten – wie wäre es, wenn wir erst mal die Sätze für Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose oder das Kindergeld anpassen? Diese Diskussion ist dringend nötig. Schließlich steigen nicht nur Lebensmittelpreise.

Dieser Beitrag entstammt dem WiWo-Newsletter Daily Punch. Der Newsletter liefert Ihnen den täglichen Kommentar aus der WiWo-Redaktion ins Postfach. Immer auf den Punkt, immer mit Punch. Außerdem im Punch: der Überblick über die fünf wichtigsten Themen. Hier können Sie den Newsletter abonnieren.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%