Dresden - Die kinderreiche Stadt
Wenn eins der Kinder krank ist, startet Christian Werner notfalls um sechs Uhr morgens mit der Arbeit. Dann geht der Mediengestalter früh nach Hause. Oder er arbeitet gleich von dort. Vertrauensarbeitszeit heißt das bei der Dresdener Agentur Sandstein, die Netzauftritte erstellt oder Imagekampagnen erdenkt. Was er für familienfreundlich hält, ist für die drei Chefs eigenes Interesse. Viele der 47 Angestellten haben kleine Kinder. Sandstein versucht, mit flexibler Arbeitszeit, Weiterbildung und Kita-Zuschuss zu punkten. Fachkräfte sind rar, wer viel verdienen will, zieht nach Hamburg oder München.
Sachsens Regierungssitz schrumpfte in den Neunzigerjahren und wächst seither wieder auf jetzt 536.000 Einwohner. 18- bis 24-Jährige ziehen her und bleiben. Das Rathaus meldet, Dresden sei erneut vor München und Frankfurt kinderreichste Großstadt. Firmen wie Stadtvertreter haben jedoch verinnerlicht, dass Wachstum nicht selbstverständlich ist.
Wirtschaftlicher Erfolg und familienfreundliche Politik wirken inzwischen. Anderswo machen Schulen dicht, hier öffnen neue Gymnasien. Bauland wird ausgewiesen, vor allem Vier-Raum-Wohnungen sollen gebaut werden. Flächendeckende Betreuung in Krippen, Kitas und Hort gibt es traditionell. Acht Stunden Betreuung am Tag kosten höchstens 170 Euro im Monat. Die Frage „Kind oder Beruf?“ muss niemand entscheiden.
Der heute 38-jährige Christian Werner kam 2007 mit Frau und Tochter her. „Die Makler rannten noch hinter uns her, als wir eine Drei-Raum-Wohnung suchten“, erinnert er. Eine Tagesmutter für die damals einjährige Lorelai war schnell gefunden.
Heute ist die Lage weniger komfortabel. Die nun vierköpfige Familie ist umgezogen. Die Eltern mussten Bewerbungen an Makler schreiben. Geklappt hat es im idyllischen Stadtteil Laubegast, ein Stück elbaufwärts gelegen in Radeldistanz. Das Auto hat Werner abgeschafft.
Noch ist niemand bei Sandstein gezwungen, wegen hoher Mieten außerhalb der Stadt zu wohnen. Doch der Boom ist spürbar: Immobilien werden teurer, Kita-Plätze knapp. Ähnlich sieht es in Leipzig, Rostock und Potsdam aus. Voriges Jahr, als sich bei Sandstein-Angestellten zeitgleich neun Babys ankündigten, bemühte sich Prokuristin Heike Bojunga in sozialen Netzwerken um Vertretung. Zugleich bezahlte die Agentur die Stadt, damit diese vier Krippenplätze garantierte. „Es herrschte schiere Not bei uns“, so Bojunga. „Jeder, der wollte, sollte so schnell wie möglich zurückkehren.“ Um ihren Mangel an IT-Leuten zu beheben, bildet die Agentur bereits selbst aus.
Nachwuchs strömt weiter in die Stadt. Und bereits früher Zugezogene wie Bojunga merken, dass ihre Umgebung nicht mit ihnen älter wird. Studenten und Twens bevölkern die Abendtreffpunkte. „Wenn ich heute in Neustadt ausgehe“, lacht die aparte 46-Jährige, „fühlt sich das an wie Mutti auf Patrouille.“