Demokratie Der Bundestag entmündigt sich selbst

Seite 2/4

Bundestagspräsident Norbert Quelle: dapd

Doch der Plan, den Antrag rechtzeitig vor dem nächsten Gipfel zu beschließen, schlug fehl. Auf Merkels Druck schickten die Fraktionsspitzen das Papier auf den üblichen Weg durch die Ausschüsse. Inzwischen sind die Brüsseler Verhandlungen längst gelaufen, aber der Antrag schmort immer noch in den Beratungsunterlagen. Von den Wünschen der Volksvertreter blieb wenig übrig. Vergangene Woche schlug der Bundesrechnungshof Alarm: „Alle Festlegungen zur Art und Höhe, insbesondere die Bestimmungen von Obergrenzen der deutschen Beiträge zum ESM, sind gesetzlich zu regeln“, heißt es in seinem Papier für den Haushaltsausschuss. Bundestagspräsident Norbert Lammert fordert, nicht nur die Errichtung des Hilfstopfs, sondern jede einzelne Auszahlung bedürfe des Ja-Worts des Bundestages. Für die Grünen verlangt ihr Vormann Trittin: „Bei der Einführung des ESM darf die Bundesregierung das Haushaltsrecht des Bundestages nicht umgehen. Die Einrichtung bedarf eines Gesetzes, das Verhalten der Bundesregierung im ESM der parlamentarischen Kontrolle.“

Friss oder Stirb

Die Überrumpelungstaktik, mit der die Exekutive seit der Finanzkrise operiert, mag effizient sein, hat aber gravierende Nebenwirkungen. „Die jetzige Bundesregierung agierte wiederholt nach dem Prinzip Friss-oder-Stirb“, warnt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt von der TU Dresden. „Die Geduld der Fraktionen erschöpft sich. Merkel sollte merken, dass es allmählich gouvernementale Demutsgesten gegenüber dem Parlament braucht.“

Die Schuld läge jedoch nicht allein bei der Regierung. Die sich verdichtende europäische Integration hinterlasse Spuren: „Es ist für ein Parlament immer schwierig, in internationalen Verhandlungen auf die Regierung Einfluss zu nehmen“, sagt Politologe Patzelt. Auch der Bundestag bekomme das zu spüren: Er beginne, „auf die bundespolitische Bedeutung deutscher Landtage abzusinken“.

Für Debatten auf Augenhöhe mit der Regierung seien die meisten Parlamentarier ohnehin nicht gerüstet. Ihnen „fehlt es heute an Statur“, klagt Patzelt. „Nicht wenige von ihnen kommen vom Hörsaal direkt in den Plenarsaal. Bei schönem Wetter können sie ihr Mandat schon erfüllen; doch wehe, wenn harte Zeiten kommen!“ Viele Abgeordnete klagen hinter vorgehaltener Hand, dass sie all die komplizierten Währungsfragen gar nicht verstünden. „Uns geht es da doch genau wie den Bürgern“, stöhnt ein CDU-Mann.

Umso verlockender für die Regierung, die entscheidenden Pflöcke mit Expertenräten und Kommissionen einzuschlagen – Outsourcing aus dem Reichstag. Nun berät die von der Regierung hochtrabend so genannte Ethikkommission über die Abwägung von Atomausstieg und CO2-Ausstoß. „Die Namensgebung ist schon eine Vorgabe“, sagt SPD-Parlamentarier Bülow. Er sei nicht gegen Expertenrat, wohl aber dagegen „dass sich alle an die Ergebnisse gebunden fühlen“. Zudem könne man Fachleute auch im parlamentarischen Verfahren anhören. „Als Abgeordneter will ich die Fragen stellen und mir nicht das Ergebnis vorsetzen lassen.“

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%