Demokratie Der Bundestag entmündigt sich selbst

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Im Juni vergangenen Jahres wuchs die Wut der Europaabgeordneten so sehr, dass die Vorsitzenden der vier größten Fraktionen in seltener Einheit an die Öffentlichkeit gingen, um „die Alarmglocken zu läuten“, wie sich Joseph Daul, Chef der Konservativen, ausdrückte. Doch der Appell half nicht. Im Oktober preschten Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy beim Strandspaziergang in Deauville mit einem Deal vor. „Dieses selbst ernannte Direktorium ist ein Anschlag auf die Institutionen der Europäischen Union“, polterte der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten Martin Schulz damals und meinte vor allem die Bürgervertretung.

Entmachtung durch Bürgerbeteiligung

Die Tendenz zur Entmachtung der Parlamente regiert auf allen Ebenen. In Bundesländern und Kommunen geht sie sogar von den Parlamentariern selbst aus – durch verstärkte Bürgerbeteiligung. In Rheinland-Pfalz schlug wenige Wochen vor der Wahl der FDP-Spitzenkandidat Herbert Mertin vor, über den Weiterbau der umstrittenen Hochbrücke über die Mosel, die er einst selbst im Parlament gebilligt hatte, die Bürger entscheiden zu lassen. Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Harry Voigtsberger (SPD) empfahl Ende vergangenen Jahres einen Bürgerentscheid über die Inbetriebnahme der längst fertiggestellten Kohlenmonoxid-Leitung des Bayer-Konzerns. Auch im Falle des bereits im vergangenen Jahrtausend vom Parlament gebilligten Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 ist der Volksentscheid Mittel der Wahl für die baldige Regierungspartei SPD. Die Masche setzt sich auf lokaler Ebene fort: Im fränkischen Nankendorf rief Bürgermeister Kurt Neuner im Winter nach einem Volksentscheid über die Aufstellung von Sendemasten für den behördlichen Polizeifunk.

Aus Sicht der Repräsentanten mag die Selbstentmündigung kurzfristig attraktiv sein, auf längere Sicht ist sie gefährlich. Denn die Parlamente berauben sich damit ihrer entscheidenden Funktion: die letzte Instanz der politischen Entscheidungsfindung zu sein. Danach kommen nur noch Gerichte, die getroffene Regelungen mit der Verfassung abgleichen.

In Deutschland gilt zunehmend eine Mischform aus parlamentarischer und direkter Demokratie. Bürgerentscheide werden nicht nach einem festen Muster, sondern nach dem Gusto der Regierenden angesetzt. Das jedoch bedeutet keinen Kompetenzgewinn für das Volk, sondern dessen populistische Instrumentalisierung gegen das Parlament.

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