Demokratie Der Bundestag entmündigt sich selbst

Euro-Krise und Energiewende macht Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Chefsache. Bei den fundamentalen Entscheidungen für die Zukunft der Industrienation Deutschland spielt der Bundestag nur eine Nebenrolle.

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Federn lassen. Die Quelle: dapd

Keine zwei Monate mehr, dann schreiben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Geschichte: Am 9. Juni sollen sie den deutlich schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie beschließen. Allerdings empfiehlt sich Kurzschrift, denn viel Zeit für den historischen Akt bleibt ihnen nicht. Gerade mal zwei Tage hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeplant, die zwischen dem Kabinettsbeschluss für ein neues Ausstiegsgesetz und dessen Verabschiedung durch Bundestag und Bundesrat liegen. Denn schon am 15. Juni soll die Neuregelung das dann auslaufende Moratorium ablösen.

Die Kernschmelze des alten Energiekonzepts, die weitgehend ohne inhaltliche Beteiligung des Parlaments auskommt, schließt nahtlos an die faktische Entmündigung der Volksvertreter bei der Euro-Rettung an: Bei den umwälzenden Entscheidungen über die wichtigsten Lebenselixiere einer hoch entwickelten Industrienation – ihre Währung und ihre Energieversorgung – ist der Bundestag in die Rolle des Statisten abgedrängt. Ausführliche gesellschaftliche Debatten, Redeschlachten im Plenum – Fehlanzeige.

Andere Kaliber als früher

Gleich den Start in die Energiewende markierte Angela Merkel mit einer Machtdemonstration. Das Gesetz zur Laufzeitverlängerung, gerade erst im Herbst 2010 beschlossen, setze sie für drei Monate aus. Eine Ermächtigung dafür kennt das Grundgesetz nicht, das Parlament schreibt die Regeln. Ein Jahr lang hatte die Regierung einfach darauf verzichtet, das Gesetz gegen Kinderpornografie im Internet anzuwenden. „Grob verfassungswidrig“ nannte das Bundestagspräsident Norbert Lammert. Auch die Wehrpflicht steht nur noch auf dem Papier des Gesetzbuches.

Eine „Marginalisierung der Parlamente“ erkennt Heinrich Oberreuter, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing. Anfang April hat er zusammen mit der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen eine Tagung zur Ohnmacht der Volksvertretungen organisiert. Gerade in der Atomdebatte sieht Oberreuter eine „Ausnahmezustandsmentalität. Das Parlament wird von der Regierung auf die Seite geschoben. Das von ihm verabschiedete Recht wird gebrochen oder umgangen.“ Zwar bemüht sich eine Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen, Schritt zu halten. Aber die Regierung gibt das Tempo vor.

Einen „zähen Stellungskampf“ sieht der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin. „Der Versuch der Regierung, das Parlament mit ihrem Handeln zu präjudizieren, ist ein institutioneller Konflikt, weniger ein parteipolitischer.“ Der SPD-Abgeordnete Marco Bülow, der vergangenes Jahr mit seinem Buch „Wir Abnicker“ Aufsehen erregte, klagt: „Alles hat sich verschärft. Es kommen immer mehr Entscheidungen auf uns zu, die immer schneller durchgewinkt werden.“ Weichenstellungen von fundamentaler Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft, mit langfristiger Wirkung. „Das sind andere Kaliber als früher.“ Die knappen Termine engen den Spielraum des Parlaments ein.

Den immensen Zeitdruck kennen die Abgeordneten schon von der seit drei Jahren permanenten Finanzkrise. Wenn die Regierung über Nacht Milliardensummen zur Stützung von Banken oder Euro-Staaten lockermachen muss, bleibt in der Tat keine andere Wahl. Doch bei der Ausgestaltung des künftigen Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) wuchs der Unmut im Parlament. Vor allem die Koalitionsfraktionen, deren Wähler beim Thema Währungsstabilität besonders sensibel sind, wollten verhindern, dass die Bundeskanzlerin den europäischen Partnern zu weit entgegenkommt. Also brachten sie einen Antrag ein, der die Regierung binden sollte.

Bundestagspräsident Norbert Quelle: dapd

Doch der Plan, den Antrag rechtzeitig vor dem nächsten Gipfel zu beschließen, schlug fehl. Auf Merkels Druck schickten die Fraktionsspitzen das Papier auf den üblichen Weg durch die Ausschüsse. Inzwischen sind die Brüsseler Verhandlungen längst gelaufen, aber der Antrag schmort immer noch in den Beratungsunterlagen. Von den Wünschen der Volksvertreter blieb wenig übrig. Vergangene Woche schlug der Bundesrechnungshof Alarm: „Alle Festlegungen zur Art und Höhe, insbesondere die Bestimmungen von Obergrenzen der deutschen Beiträge zum ESM, sind gesetzlich zu regeln“, heißt es in seinem Papier für den Haushaltsausschuss. Bundestagspräsident Norbert Lammert fordert, nicht nur die Errichtung des Hilfstopfs, sondern jede einzelne Auszahlung bedürfe des Ja-Worts des Bundestages. Für die Grünen verlangt ihr Vormann Trittin: „Bei der Einführung des ESM darf die Bundesregierung das Haushaltsrecht des Bundestages nicht umgehen. Die Einrichtung bedarf eines Gesetzes, das Verhalten der Bundesregierung im ESM der parlamentarischen Kontrolle.“

Friss oder Stirb

Die Überrumpelungstaktik, mit der die Exekutive seit der Finanzkrise operiert, mag effizient sein, hat aber gravierende Nebenwirkungen. „Die jetzige Bundesregierung agierte wiederholt nach dem Prinzip Friss-oder-Stirb“, warnt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt von der TU Dresden. „Die Geduld der Fraktionen erschöpft sich. Merkel sollte merken, dass es allmählich gouvernementale Demutsgesten gegenüber dem Parlament braucht.“

Die Schuld läge jedoch nicht allein bei der Regierung. Die sich verdichtende europäische Integration hinterlasse Spuren: „Es ist für ein Parlament immer schwierig, in internationalen Verhandlungen auf die Regierung Einfluss zu nehmen“, sagt Politologe Patzelt. Auch der Bundestag bekomme das zu spüren: Er beginne, „auf die bundespolitische Bedeutung deutscher Landtage abzusinken“.

Für Debatten auf Augenhöhe mit der Regierung seien die meisten Parlamentarier ohnehin nicht gerüstet. Ihnen „fehlt es heute an Statur“, klagt Patzelt. „Nicht wenige von ihnen kommen vom Hörsaal direkt in den Plenarsaal. Bei schönem Wetter können sie ihr Mandat schon erfüllen; doch wehe, wenn harte Zeiten kommen!“ Viele Abgeordnete klagen hinter vorgehaltener Hand, dass sie all die komplizierten Währungsfragen gar nicht verstünden. „Uns geht es da doch genau wie den Bürgern“, stöhnt ein CDU-Mann.

Umso verlockender für die Regierung, die entscheidenden Pflöcke mit Expertenräten und Kommissionen einzuschlagen – Outsourcing aus dem Reichstag. Nun berät die von der Regierung hochtrabend so genannte Ethikkommission über die Abwägung von Atomausstieg und CO2-Ausstoß. „Die Namensgebung ist schon eine Vorgabe“, sagt SPD-Parlamentarier Bülow. Er sei nicht gegen Expertenrat, wohl aber dagegen „dass sich alle an die Ergebnisse gebunden fühlen“. Zudem könne man Fachleute auch im parlamentarischen Verfahren anhören. „Als Abgeordneter will ich die Fragen stellen und mir nicht das Ergebnis vorsetzen lassen.“

Abgebranntes Dreigestirn. Quelle: REUTERS

Trittin sieht Merkels Meinungsmacher ebenfalls kritisch. „Die Ethikkommission beschäftigt sich nicht so sehr mit ethischen, sondern mit sehr praktischen Fragen der Energiepolitik. Die Absicht der Regierung, das Parlament an das Votum der von ihr handverlesenen Kommission zu binden, ist offensichtlich.“ Aber ob das Parlament sich das gefallen lasse, „ist eine Frage seines Selbstbewusstseins. Einen dauerhaft tragfähigen neuen Konsens kann es nur im Bundestag geben.“

Politologe Patzelt fasst zusammen: Die Regierung „sendet ein Signal: Der Sachverstand sitzt nicht im Bundestag, sondern außerhalb.“ Und die Medien helfen kräftig mit. Klassisch ist die Meldungsformulierung: „In Berlin beraten derzeit Politiker, Beamte und Experten.“

Konsens nur im Bundestag

Das hat Tradition. Schon 2003 beklagte der damalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, immer mehr Themen „von wirklich zentraler Bedeutung“ würden von außerparlamentarischen Gremien vorentschieden. Damals hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Nationalen Ethikrat, in der Hartz- und der Rürup-Kommission Gen- und Biotechnik sowie die Reform von Arbeitsmarkt und Rente prägen lassen. Schon damals warnte Papier vor einer „Entmachtung des Parlaments“.

Das parlamentarische Vakuum spiegelt sich am EU-Sitz in Brüssel und in den Hauptstädten der Euro-Zone wider. In Griechenland, Irland und Portugal beklagen Regierungen und Parlamente, ihnen werde durch die Nothilfe von außen hineinregiert. In Portugal gibt es derzeit nach der Selbstauflösung nicht einmal mehr ein funktionierendes Parlament, das die notwendige Zustimmung zum auszuhandelnden Anpassungsprogramm geben könnte. Nun drängt die Zeit, und die Demokratie gerät in den Hintergrund.

Seit dem Beginn der Finanzkrise stellen auch die Europaabgeordneten immer wieder fest, dass die Staats- und Regierungschefs Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg treffen – stets mit dem Hinweis, man müsse schnell handeln. Nach der Lehman-Pleite im September 2008 wurden sie gedrängt, eine höhere Einlagensicherung für Sparer in erster Lesung zu billigen. In dramatischen Nachsitzungen schnürten die Staats- und Regierungschefs im vergangenen Frühjahr erst ein Rettungspaket für Griechenland, schufen dann den aktuellen Hilfsmechanismus und setzten den europäischen Haushalt als Sicherheit ein. Die Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments ließen sie außer Acht. Und beim permanenten Rettungsmechanismus ESM sehen die Verträge gar kein Mitspracherecht des Parlaments vor.

Im Juni vergangenen Jahres wuchs die Wut der Europaabgeordneten so sehr, dass die Vorsitzenden der vier größten Fraktionen in seltener Einheit an die Öffentlichkeit gingen, um „die Alarmglocken zu läuten“, wie sich Joseph Daul, Chef der Konservativen, ausdrückte. Doch der Appell half nicht. Im Oktober preschten Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy beim Strandspaziergang in Deauville mit einem Deal vor. „Dieses selbst ernannte Direktorium ist ein Anschlag auf die Institutionen der Europäischen Union“, polterte der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten Martin Schulz damals und meinte vor allem die Bürgervertretung.

Entmachtung durch Bürgerbeteiligung

Die Tendenz zur Entmachtung der Parlamente regiert auf allen Ebenen. In Bundesländern und Kommunen geht sie sogar von den Parlamentariern selbst aus – durch verstärkte Bürgerbeteiligung. In Rheinland-Pfalz schlug wenige Wochen vor der Wahl der FDP-Spitzenkandidat Herbert Mertin vor, über den Weiterbau der umstrittenen Hochbrücke über die Mosel, die er einst selbst im Parlament gebilligt hatte, die Bürger entscheiden zu lassen. Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Harry Voigtsberger (SPD) empfahl Ende vergangenen Jahres einen Bürgerentscheid über die Inbetriebnahme der längst fertiggestellten Kohlenmonoxid-Leitung des Bayer-Konzerns. Auch im Falle des bereits im vergangenen Jahrtausend vom Parlament gebilligten Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 ist der Volksentscheid Mittel der Wahl für die baldige Regierungspartei SPD. Die Masche setzt sich auf lokaler Ebene fort: Im fränkischen Nankendorf rief Bürgermeister Kurt Neuner im Winter nach einem Volksentscheid über die Aufstellung von Sendemasten für den behördlichen Polizeifunk.

Aus Sicht der Repräsentanten mag die Selbstentmündigung kurzfristig attraktiv sein, auf längere Sicht ist sie gefährlich. Denn die Parlamente berauben sich damit ihrer entscheidenden Funktion: die letzte Instanz der politischen Entscheidungsfindung zu sein. Danach kommen nur noch Gerichte, die getroffene Regelungen mit der Verfassung abgleichen.

In Deutschland gilt zunehmend eine Mischform aus parlamentarischer und direkter Demokratie. Bürgerentscheide werden nicht nach einem festen Muster, sondern nach dem Gusto der Regierenden angesetzt. Das jedoch bedeutet keinen Kompetenzgewinn für das Volk, sondern dessen populistische Instrumentalisierung gegen das Parlament.

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