Oh, Kassandra. Im deutschen Elfenbeinturm hättest du dich wohlgefühlt. Dort reißt der Strom der Schauergeschichten nicht ab. Im Jahr 2005 machte die düstere These die Runde, Deutschland würde zu einer Basar-Ökonomie verkommen. Stattdessen begann bei uns damals dank der Reformen des Jahres 2004 eine industrielle Renaissance, um die uns die Welt bis heute beneidet. Und trotz schriller Warnungen deutscher Ökonomen der letzten fünf Jahre, dass die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) unweigerlich zu Inflation führen müsse, ist der Auftrieb der Verbraucherpreise heute so verhalten wie selten zuvor.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Jetzt hat sich auch Hans-Werner Sinn, Chef des ifo Instituts, dem Chor der Kritiker angeschlossen, die die EZB als „Bad Bank“ verunglimpfen. Durch die avisierten Käufe fragwürdiger Anleihen würde sie Banken deren Bilanzschrott abnehmen und den Steuerzahlern unverantwortliche Risiken aufbürden. Genauso wie einst die Fehlprognose, die EZB führe uns in die Inflation, beruht die „Bad Bank“-Anklage auf einem volkswirtschaftlichen Anfängerfehler. Denn Einkommen und Wohlstand, Arbeitsplätze und Risiken sind keine fest vorgegebenen Größen, die nur umverteilt werden können, sei es zwischen Arm oder Reich oder zwischen Geschäfts- und Notenbanken. Nein, diese Größen werden entscheidend durch die Wirtschaftspolitik gestaltet. Eine falsche Geldpolitik erhöht die Risiken, eine angemessene Geldpolitik mindert die Risiken.
Rezessionen sind teuer. Gemessen am Anstieg unserer Staatsschulden, hat die Mega-Rezession nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008 die deutschen Steuerzahler über 250 Milliarden Euro gekostet. Im Sommer 2012 stand Deutschland erneut am Rande einer Rezession. Erst mit seiner Ansage, der grassierenden Spekulation auf einen Zerfall des Euro notfalls energisch entgegenzutreten, hat EZB-Präsident Mario Draghi die Panik gestoppt. Er hat uns damit Rezessionskosten von mehreren Milliarden Euro erspart.
EZB schmälert das Risiko einer Rezession
Seit Mai haben der russische Feldzug gegen die Ukraine und andere geopolitische Risiken die deutsche Konjunktur erneut aus dem Tritt gebracht. Der jüngste Einbruch der ifo-Geschäftserwartungen zeigt, dass eine Rezession nicht mehr auszuschließen ist. Die EZB hat die Aufgabe, den Preisauftrieb bei knapp zwei Prozent pro Jahr zu halten. Mit nur noch 0,3 Prozent verfehlt sie dieses Ziel derzeit erheblich. Die aktuelle Schwäche gerade auch der deutschen Konjunktur spricht gegen ein spürbares Anziehen der Euro-Inflation in den kommenden Jahren. Das eindeutige Mandat der EZB verpflichtet sie zum Gegensteuern. Da sie die Leitzinsen nicht mehr senken kann und den Spielraum für konventionelle Refinanzierungsangebote bereits ausgereizt hat, ist der Ankauf von Anleihen der nächste naheliegende Schritt. Die EZB wird Zinstitel in Form von Pfandbriefen und verbrieften Kreditbündeln kaufen. Sie tut dies im Tausch gegen Zentralbankgeld, das sie nahezu kostenlos schöpfen kann. Die zusätzlichen Zinseinnahmen erhöhen ihren Gewinn. Diesen Zusatzgewinn reicht sie anteilig an den deutschen Steuerzahler weiter, der über die Bundesbank zu 27 Prozent Eigentümer der EZB ist.
Natürlich könnten dem Zusatzgewinn auch Verluste gegenüberstehen, wenn die gekauften Titel ausfallen. Aber wie groß ist dieses Risiko? Die Ausfallrate für die Gesamtheit der Papiere, die die EZB kaufen will, lag von Mitte 2007 bis Herbst 2013 bei 1,5 Prozent. Trotz der Weltfinanzkrise und der Euro-Krise, die in diese Zeit fielen, war die Ausfallrate sehr gering. Denn die europäischen Papiere sind von anderer Qualität als amerikanische ABS-Anleihen einschließlich der berüchtigten „Subprime-Papiere“, deren Ausfallrate in jener Zeit bei 18,4 Prozent lag. Die EZB will sich bei ihren Käufen auf die hochwertigen Segmente des Marktes konzentrieren. Für diese Segmente lagen die Ausfallraten selbst in der Finanz- und Euro-Krise vielfach nur bei 0,1 Prozent oder darunter. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass Einzelverluste der EZB aus solchen Papieren ihre zusätzlichen Zinsgewinne aufzehren.
Noch wichtiger aber ist, dass die EZB mit einer angemessenen Geldpolitik das Risiko einer Rezession schmälert. Damit verringert sie die Ausfallgefahr für Wertpapiere innerhalb und außerhalb ihrer Bilanz. In einem banalen Sinn haben die Kritiker natürlich recht: Menschliches Handeln birgt immer Chancen und Risiken. Aber Nichtstun wäre weit riskanter. Eine Zentralbank, die keine Geldpolitik betriebe, könnte mit einer Minibilanz weder einen Gewinn machen noch ein Risiko eingehen.
Aber der Schaden, den sie durch den Verzicht auf Geldpolitik anrichtete, wäre katastrophal. Die Welle von Insolvenzen, Arbeitsplatzverlusten sowie Steuer- und Kreditausfällen würde nahezu alle Bürger teuer zu stehen kommen. Nur auf hypothetische Risiken zu schauen greift zu kurz. Die Notenbank muss eine angemessene Geldpolitik betreiben. Indem sie dies tut, mindert sie die Risiken für alle Beteiligten, auch für die deutschen Steuerzahler.