
Ob Rente, Arbeitsmarkt oder Krankenversicherung: deutsche Wirtschaftswissenschaftler drängen seit Jahren auf Reformen. Dabei geht es um sensible politische Fragen – also Fragen, bei denen persönliche Präferenzen und nicht nur wissenschaftliche Korrektheit eine Rolle spielen. Umso mehr überrascht es, wie viel Einigkeit in meiner Profession oft darüber herrscht, was zu geschehen habe. Nur vereinzelt gibt es Sondermeinungen, sichtbar etwa durch Sondervoten im Sachverständigenrat.
Gerade weil sich die Volkswirte oft so einig sind, verblüfft es, wie wenig die Politik auf sie hört. Warum setzt sich der ökonomische Sachverstand im Reformprozess so selten durch? Eine einfache Erklärung wäre, dass Wähler vielen Reformvorschlägen aus Unwissenheit oder Egoismus misstrauen oder dass in der Politik schlicht die Trägheit regiert. Es gibt gelegentlich Aufrufe, in denen Volkswirte an die Durchsetzungskraft der Politik appellieren. Hier liegt aber ein verblüffender Widerspruch. Wir Volkswirte versuchen ja oft, das Verhalten wirtschaftlicher und politischer Akteure über ihr Eigeninteresse zu klären. Warum sollte ein Appell helfen, wenn Politiker und Bürger, wie in vielen Modellen angenommen, auch nur Nutzenmaximierer sind? Warum sollten rationale Politiker, die Wahlen gewinnen wollen, etwas vorschlagen, was die Mehrheit nicht will oder versteht?
Politiker und Wähler handeln aus Eigeninteresse
Natürlich handeln Politiker und Wähler oft aus eigenem Interesse. Wählergruppen stimmen gerne für eine regulierende Politik, die ihnen selber nutzt; Politiker können das nicht ignorieren, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Ein von Ökonomen wahrgenommener Reformstau ist aber nicht notwendig ein Zeichen für einen Mangel der Demokratie. Nachhaltige Reformen sind in der Demokratie trotz vielfältiger Interessen – und Interessengruppen – möglich. Eine Reform kann dann zum Nutzen aller durchgeführt werden, wenn die Reformgewinner so viel davon haben, dass es möglich ist, die Verlierer zu kompensieren. Es reicht nicht, dass die Kompensation nur in der Theorie möglich ist. Sie muss konkreter Bestandteil des Vorhabens sein, damit die Chancen für die Durchsetzbarkeit steigen. Eine Verteilungsrechnung gibt einem Reformvorschlag politisch zusätzliches Gewicht.
Ein gutes Beispiel dafür sind das Arbeitslosengeld II (ALG II) und die Transferentzugsrate, also der Anteil des Hinzuverdienstes zum ALG II, den ein Empfänger nicht für sich selbst behalten kann. Unter pekuniären Aspekten sind die Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen oder auszuweiten, für viele Bürger gering. Das Senken des Transferentzugs ist sinnvoll, um Beschäftigungshindernisse abzubauen.
Das ist aber nicht einfach. Entweder man belässt den Betrag, den man ohne Hinzuverdienst erhält, auf dem alten Niveau. Dann entstehen bei geringerem Transferentzug erhebliche Mehrkosten. Andernfalls müsste man die Sätze für ALG-II-Empfänger, die nichts hinzuverdienen, senken, was ohne die flächendeckende Bereitstellung staatlicher Jobs schwer zu rechtfertigen wäre. Hinzu kommt: Jede beschäftigungswirksame Reform schafft mehr Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt nimmt kurzfristig die neuen Wettbewerber nur auf, wenn die Löhne fallen. Das kann erklären, warum Insider am Arbeitsmarkt entsprechende Reformen skeptisch sehen, selbst wenn sie selbst auf den ersten Blick gar nicht betroffen sind.