Der irrlichternde Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel verliert sich in Kleinkriegen

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Der ewig Unvollendete, Unstete, Unberechenbare

Es muss diese Momente der Verzweiflung in Gabriels Leben geben. Diese Nächte, in denen er sich fragt, warum der Bundeskanzlerin so vieles gelingt und immer noch kaum etwas nachhängt, komme und sage und regiere sie, wie sie wolle. Er dagegen? Ach Gott. Falls – falls! – er überhaupt einmal für seine eigene Politik, seine mühevoll und langsam gewonnene Staatsmannhaftigkeit gelobt wird, schwingt in den Würdigungen stets der Hauch des Vorläufigen, des Nur-noch-nicht-wieder-Kaputtgemachten mit. Er ist doch der am längsten amtierende SPD-Chef seit Willy Brandt! Glauben alle, dass sei Glück? Reines Glück?

Sigmar Gabriel ist im Bild der Öffentlichkeit der ewig Unvollendete, Unstete, Unberechenbare.

Warum eigentlich? Hat er nicht schon vor zehn Jahren in Interviews formuliert, dass man „sein Leben selbst in die Hand nehmen kann“ – seine sozialdemokratische „Idee von Freiheit“? Sollten alle doch seine Antrittsrede als Parteichef von 2009 nachlesen. Und die vom Parteitag im Herbst 2013: dieselben Überzeugungen. Hat er da nicht auch seinen Genossen zugerufen, dass es die oberste Maxime von Sozialdemokraten sein muss, „alle Menschen frei zu machen“?

Was Deutsche und Amerikaner über TTIP denken

Es gibt, und das hat viel mit seiner eigenen Herkunft zu tun, eine Überzeugung und Konstante in seinem politischen Denken – die, dass jeder Mensch zu Emanzipation und Entfaltung und Aufstieg fähig ist, spätestens wenn die große SPD ihm den Weg freiräumt. Alle da draußen, die Bürger, die Journalisten, auch seine Genossen müssten nur mal besser zuhören. Findet er.

Später am Abend, Gabriel hat die Führung durch die Kaiserpfalz längst beendet, steht der Wirtschaftsminister auf einem Aussichtsplateau. Hinter ihm schmokt der Grill. Gabriel will jetzt über seine Kindheit sprechen: „Da unten, neben dem Wald bin ich groß geworden“, sagt er und zeigt ins Tal. Goslar-Jürgenohl, eine Siedlung für Ostvertriebene. Es folgt die wahre Geschichte eines Kindes aus einfachen Verhältnissen. Der Vater Kommunalbeamter, die Mutter Krankenschwester. Ein Junge, dessen Eltern sich trennten, als er drei war, und der beim ungeliebten Nazi-Vater bleiben musste, jahrelang. Der es mit viel Drängen einer guten Mutter, guten Lehrern und natürlich der guten SPD zum Abitur schaffte. Der als Nachtportier und Brauereifahrer jobbte. Und der 1990 in seiner Göttinger Studentenbude saß, im Radio verfolgte, wie ein gewisser Gerhard Schröder bei der niedersächsischen Landtagswahl knapp gegen Ernst Albrecht verlor und beschloss „zum Gelächter meiner Freunde, dass ich beim nächsten Mal selbst antreten werde“. Der dann Landtagsabgeordneter wurde, Fraktionschef, 1999 tatsächlich Ministerpräsident, später SPD-Chef, Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik.

Das geplante Freihandelsabkommen mit Kanada sorgt in der SPD für Ärger. Parteichef Gabriel braucht in gut zwei Wochen die Zustimmung der Genossen zu Ceta.

Der private Gabriel findet, dass der öffentliche Gabriel für diese Leistung eine gewisse Würdigung verdient hätte. Für seinen Beweis, dass es möglich ist, in diesem Land aufzusteigen – gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Ja, Gabriel selbst ist sein größter Fan, er hält sich, so formuliert es ein halbwohlwollender Parteifreund, für den größten Rock ’n’ Roller der Politik. Keiner da draußen, der so mutig, so präsent, so aggressiv sein kann. Keiner, der wie er dorthin geht, wo es wehtut, der Säle in Rage und Rausch reden kann. Erst recht keiner, der in einem solch massigen Klangkörper ein so sensibles Gewittertierchen behütet, das Themen und Debatten erspürt, lange bevor es andere tun.

Sigmar Gabriel wollte Wirtschaft und Sozialdemokratie versöhnen. Er muss einsehen: Das klappt halt nicht.
von Gregor Peter Schmitz

Anruf bei Henning Scherf, SPD-Grande und ehemaliger Bremer Bürgermeister, der von sich selbst sagt, er habe zu Gabriel ein „fast brüderliches Verhältnis“. Einmal, erinnert sich Scherf, Gabriel hatte gerade die Staatskanzlei in Hannover übernommen, da saßen sie beide auf dem Brüsseler Flughafen fest. Verspätung. Scherf und Gabriel schmiedeten Pläne. „Wir wollten was richtig Großes machen, was mit Strahlkraft. Da haben wir uns den Jade-Weser-Port ausgedacht.“

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