Der irrlichternde Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel verliert sich in Kleinkriegen

Als Wirtschaftsminister müsste der SPD-Chef der leidenschaftlichste Anwalt für den Mittelstand sein. Doch er macht lieber den Vizekanzler, erklärt TTIP für gescheitert, attackiert die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und liefert sich juristische Kleinkriege um die Tengelmann-Fusion.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Sigmar Gabriel Quelle: dpa

An einem Tag Anfang August steht Sigmar Gabriel im Wald und sucht den Sozialismus. Der SPD-Chef ist zu Besuch im Naturerlebniscamp auf dem Gelände der DGB-Jugendbildungsstätte Zechlin. Er selbst sei ja als junger Mann lange bei den Falken gewesen, der parteinahen Jugendorganisation, dort habe es ganz ähnlich ausgesehen, erzählt der 56-Jährige den Gruppenleitern. „Es gibt im DGB ja auch heute noch ganz viele, die waren früher mit mir zelten.“ Plaudern, Lachen, Lagerfeuerromantik. Bis es dem Vizekanzler nach ein paar Minuten zu langweilig wird. „Jetzt haben Sie einen vor sich, über den sie vor dem Fernseher immer schimpfen“, platzt es aus ihm aus. „Also los, schimpfen Sie.“

Zwei Tage später, Peine. Besuch der Berufsbildenden Schulen. Ein Klotz, wie ihn nur die Siebzigerjahre verbrechen konnten. Gabriel sitzt im Kreis zwischen halbstarken Jugendlichen und Lehrern. „Als ich zur Schule ging, sahen dort die Klos besser aus als bei uns zu Hause. Hier dürfte es umgekehrt sein“, sagt der studierte Lehrer Gabriel. Er fordert unter Applaus ein milliardenschweres Programm zur Schulsanierung und lässt sich zur wirtschaftlichen Gesamtlage und zur Türkeipolitik befragen. Dann fällt ihm ein junger Mann auf, der nicht recht zufrieden scheint mit seinen Antworten. „Was ist?“, fragt Gabriel herüber. „Los, Junge, muck!“ Plötzlich ist Stimmung im Saal.

Gelsenkirchen, Wissenschaftspark. Die Augustsonne knallt durchs Glasdach. Gabriel beantwortet auf einer SPD-Veranstaltung Fragen von Bürgern: Rente, Flüchtlinge, Schulen. Sozi-Standard. Freundliches Quatschen. Bis jemand kritisch nach Freihandel fragt, nach den umstrittenen Abkommen Ceta und TTIP – und Gabriel plötzlich hellwach ist. „Nicht alles, was nicht Ihrer Meinung entspricht, ist Blödsinn“, blafft er. „Nur die Tatsache, dass Menschen demonstrieren, führt mich nicht dazu, dass ich aufhöre zu denken.“

Was Politiker in ihrem Urlaub treiben
Gesundheitsminister Hermann Gröhe Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
Verkehrsminister Alexander Dobrindt Quelle: dpa
CDU-Bundesvize Julia Klöckner Quelle: dpa
Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht Quelle: dpa
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter Quelle: dpa
Umweltministerin Barbara Hendricks Quelle: dpa

Momente eines Mannes, der erst in der Auseinandersetzung mit anderen so richtig zu sich selbst findet. Was nicht weiter bemerkenswert wäre, wenn dieser Mann nicht als Wirtschaftsminister und Vizekanzler Europas größte Volkswirtschaft steuerte. Oder zumindest steuern soll. Aber: Wohin und wie genau?

In den vergangenen Wochen und Monaten ist ein Sigmar Gabriel zu besichtigen, der weniger nach überzeugenden Antworten auf die großen ökonomischen Fragen unserer Zeit sucht, sondern eher dem politischen Kleinkrieg frönt. Freihandel, Flüchtlinge, Kartelle – Gabriel kriegt es bei jeder dieser Fragen hin, dass es nicht mehr um die Sache geht, sondern stets um Gabriel gegen den Rest der Welt. Freihandel? Auf die Frage geschrumpft, ob der SPD-Chef angesichts sinkender Zustimmungsraten zu den Abkommen TTIP und Ceta seine Partei noch im Griff hat; Flüchtlinge? Reduziert auf die Frage, ob er oder die Kanzlerin die Lage richtig einschätzen; Fusion von Edeka und Tengelmann? Nur noch ein Streit zwischen Gabriel und Düsseldorfer Richtern.

Sigmar Gabriel tourt durch Niedersachsen - gut erholt und krawallig. Das Handelsabkommen mit Kanada? Das Beste aller Zeiten. Und der Edeka-Tengelmann-Skandal? Kein Skandal. Wie Gabriel um seine Zukunft kämpft.
von Simon Book

Und das bei einem Mann, der doch eigentlich als Wirtschaftsminister für sich und seine Partei ein echtes Vermächtnis hinterlassen wollte. Zeitungen hätten ihn schon den „roten Erhard“ genannt, tönte er noch vergangenes Jahr bei der Einweihung des SPD-Wirtschaftsforums, und „ehrlich gesagt, ich kann gut damit leben“. Was von so viel Selbstbewusstsein bleibt: ein Mann, der um das politische Überleben kämpft, gegen sinkende Umfragewerte; gegen die Falle, der nächste aussichtslose SPD-Kanzlerkandidat zu sein. Es sind Wochen, die das Potenzial haben, sein ganzes politisches Lebenswerk zu prägen. Im Guten. Oder im Schlechten. Was macht dieser Druck mit ihm?

Momente der Verzweiflung

Ein Besuch in Goslar, Gabriels Heimat. Der SPD-Chef ist auf Sommertour. Kundig führt er durch die Kaiserpfalz von 1050. Frei referiert der Vizekanzler über die drei deutschen Reiche, die hier Hof hielten. Ein schöner Abend, ein toller Termin, um über Gabriels Herkunft und Prägung zu sprechen. Doch die Journalisten fragen vor allem nach seinen großen Problemen: Freihandel, Supermärkte, Energiewende. Selbst für Petra Hinz soll sich Gabriel verantworten, für eben jene SPD-Politikerin aus Essen, die in ihrem Lebenslauf geschummelt hat. Ob das nicht stellvertretend für den Zustand der gesamten Partei unter ihm stehe, will ein Reporter wissen. Der Minister schnaubt nur.

Der ewig Unvollendete, Unstete, Unberechenbare

Es muss diese Momente der Verzweiflung in Gabriels Leben geben. Diese Nächte, in denen er sich fragt, warum der Bundeskanzlerin so vieles gelingt und immer noch kaum etwas nachhängt, komme und sage und regiere sie, wie sie wolle. Er dagegen? Ach Gott. Falls – falls! – er überhaupt einmal für seine eigene Politik, seine mühevoll und langsam gewonnene Staatsmannhaftigkeit gelobt wird, schwingt in den Würdigungen stets der Hauch des Vorläufigen, des Nur-noch-nicht-wieder-Kaputtgemachten mit. Er ist doch der am längsten amtierende SPD-Chef seit Willy Brandt! Glauben alle, dass sei Glück? Reines Glück?

Sigmar Gabriel ist im Bild der Öffentlichkeit der ewig Unvollendete, Unstete, Unberechenbare.

Warum eigentlich? Hat er nicht schon vor zehn Jahren in Interviews formuliert, dass man „sein Leben selbst in die Hand nehmen kann“ – seine sozialdemokratische „Idee von Freiheit“? Sollten alle doch seine Antrittsrede als Parteichef von 2009 nachlesen. Und die vom Parteitag im Herbst 2013: dieselben Überzeugungen. Hat er da nicht auch seinen Genossen zugerufen, dass es die oberste Maxime von Sozialdemokraten sein muss, „alle Menschen frei zu machen“?

Was Deutsche und Amerikaner über TTIP denken

Es gibt, und das hat viel mit seiner eigenen Herkunft zu tun, eine Überzeugung und Konstante in seinem politischen Denken – die, dass jeder Mensch zu Emanzipation und Entfaltung und Aufstieg fähig ist, spätestens wenn die große SPD ihm den Weg freiräumt. Alle da draußen, die Bürger, die Journalisten, auch seine Genossen müssten nur mal besser zuhören. Findet er.

Später am Abend, Gabriel hat die Führung durch die Kaiserpfalz längst beendet, steht der Wirtschaftsminister auf einem Aussichtsplateau. Hinter ihm schmokt der Grill. Gabriel will jetzt über seine Kindheit sprechen: „Da unten, neben dem Wald bin ich groß geworden“, sagt er und zeigt ins Tal. Goslar-Jürgenohl, eine Siedlung für Ostvertriebene. Es folgt die wahre Geschichte eines Kindes aus einfachen Verhältnissen. Der Vater Kommunalbeamter, die Mutter Krankenschwester. Ein Junge, dessen Eltern sich trennten, als er drei war, und der beim ungeliebten Nazi-Vater bleiben musste, jahrelang. Der es mit viel Drängen einer guten Mutter, guten Lehrern und natürlich der guten SPD zum Abitur schaffte. Der als Nachtportier und Brauereifahrer jobbte. Und der 1990 in seiner Göttinger Studentenbude saß, im Radio verfolgte, wie ein gewisser Gerhard Schröder bei der niedersächsischen Landtagswahl knapp gegen Ernst Albrecht verlor und beschloss „zum Gelächter meiner Freunde, dass ich beim nächsten Mal selbst antreten werde“. Der dann Landtagsabgeordneter wurde, Fraktionschef, 1999 tatsächlich Ministerpräsident, später SPD-Chef, Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik.

Das geplante Freihandelsabkommen mit Kanada sorgt in der SPD für Ärger. Parteichef Gabriel braucht in gut zwei Wochen die Zustimmung der Genossen zu Ceta.

Der private Gabriel findet, dass der öffentliche Gabriel für diese Leistung eine gewisse Würdigung verdient hätte. Für seinen Beweis, dass es möglich ist, in diesem Land aufzusteigen – gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Ja, Gabriel selbst ist sein größter Fan, er hält sich, so formuliert es ein halbwohlwollender Parteifreund, für den größten Rock ’n’ Roller der Politik. Keiner da draußen, der so mutig, so präsent, so aggressiv sein kann. Keiner, der wie er dorthin geht, wo es wehtut, der Säle in Rage und Rausch reden kann. Erst recht keiner, der in einem solch massigen Klangkörper ein so sensibles Gewittertierchen behütet, das Themen und Debatten erspürt, lange bevor es andere tun.

Sigmar Gabriel wollte Wirtschaft und Sozialdemokratie versöhnen. Er muss einsehen: Das klappt halt nicht.
von Gregor Peter Schmitz

Anruf bei Henning Scherf, SPD-Grande und ehemaliger Bremer Bürgermeister, der von sich selbst sagt, er habe zu Gabriel ein „fast brüderliches Verhältnis“. Einmal, erinnert sich Scherf, Gabriel hatte gerade die Staatskanzlei in Hannover übernommen, da saßen sie beide auf dem Brüsseler Flughafen fest. Verspätung. Scherf und Gabriel schmiedeten Pläne. „Wir wollten was richtig Großes machen, was mit Strahlkraft. Da haben wir uns den Jade-Weser-Port ausgedacht.“

Der Rentenbeschützer

Tatsächlich wurde der Nordsee-Tiefwasserhafen gebaut, machte jedoch schnell durch Baumängel, Planungsfehler und Ungereimtheiten bei der Vergabe der Gewerke von sich reden. Der Landtag zitierte Scherf und Gabriel 2007 vor einen Untersuchungsausschuss. Der inzwischen zum Bundesumweltminister aufgestiegene Gabriel habe eine Heidenangst gehabt, sagt Scherf: „Kritik macht ihm immer ganz stark zu schaffen. Sigmar hat sich zwar diesen dicken Panzer angefressen, aber der schützt ja nicht. Er ist ganz dünnhäutig, lebt richtig davon, dass die Leute ihm sagen: Du bist der richtige, Sigmar, halt durch, Sigmar, bleib an Deck.“ Sigmar bleibt an Deck, übersteht den Ausschuss. Andere würden danach vorsichtiger werden. Nicht so Gabriel. Er handelt weiter impulsiv und folgt den Instinkten des politischen Tieres in sich. Ohne Rücksicht auf Verluste. Bis heute tut er das.

In der Freihandelspolitik etwa. Am vergangenen Sonntag sitzt da der Vizekanzler in der Berliner Bundespressekonferenz vor Bürgern am Tag der offenen Tür und verkündet, bei TTIP „bewege sich nichts. Die Verhandlungen mit den USA sind de facto gescheitert, weil wir uns den amerikanischen Forderungen natürlich als Europäer nicht unterwerfen dürfen.“

Tags darauf lässt die Bundeskanzlerin dementieren, man verhandle selbstverständlich weiter. Schon oft sei Entscheidendes in den letzten Verhandlungsrunden passiert. Im Übrigen halte sie nichts von Zwischenurteilen à la Gabriel. Doch der Geist ist aus der Flasche: Am Dienstag sagt der französische Außenhandels-Staatssekretär Matthias Fekl: „Es gibt keine politische Unterstützung in Frankreich mehr für diese Verhandlungen.“ Auch die USA sehen sich genötigt zu reagieren, zeigen sich irritiert. Gabriel hat mal eben so ein kleines transatlantisches Erdbeben ausgelöst.

Deals, die zum Fall für den Wirtschaftsminister wurden
Die erste jemals erteilte Ministererlaubnis nach Einführung der Fusionskontrolle betraf den Energiesektor: Die Veba AG, 1929 als Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG gegründet, wollte den Mineralölbereich der Gelsenberg AG übernehmen. Das Bundeskartellamt untersagte den Zusammenschluss der Konzerne, doch der Wirtschaftsminister gab ihn am 1. Februar 1974 mit einer Ausnahmeerlaubnis frei. Die Ministererlaubnis wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bisher erst acht Mal Realität.Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Quelle: AP
Die Erlaubnis kann nur der Bundeswirtschaftsminister erteilen. Voraussetzung dafür ist nach Paragraf 24 des Kartellgesetzes, dass „die gesamtwirtschaftlichen Vorteile“ die Wettbewerbsbeschränkungen aufwiegen oder der Zusammenschluss durch ein „überragendes Interesse der Allgemeinheit“ gerechtfertigt ist. Doch schon bei der dritten Entscheidung schätze der Wirtschaftsminister die Lage offenbar falsch ein: Hans Friederichs gab 1976 dem Babcock-Konzern (später Babcock Borsig) die Erlaubnis zur Übernahme des Maschinenbauers Artos. Friderichs entschied damals entgegen der Warnungen des Bundeskartellamtes und auch der Monopolkommission. Friederich gab den „Erhalt von Arbeitsplätzen in strukturschwachen Regionen“ als Grund für seine Sondererlaubnis an. Doch kaum ein Jahr später kündigte Babcock-Artos Hunderten von Mitarbeitern. Quelle: AP
Nicht nur der Erhalt von Arbeitsplätzen kann als Begründung für eine Ministererlaubnis herhalten. Auch wenn es um die Sicherung von technologischem Know-how geht, kann Berlin das Kartellamt überstimmen. Das war im Fall von Thyssen/Hüller im Jahr 1977 der Fall. Der Bundeswirtschaftsminister bejahte das Allgemeininteresse an der Erhaltung der konkursgefährdeten Hüller Hille GmbH und erteilte eine Teilerlaubnis. Thyssen durfte das Unternehmen übernehmen. Quelle: REUTERS
Der Eon-Vorgängerkonzern Veba bekam 1974 die erste Ministererlaubnis zur Übernahme von Gelsenberg. Doch nur fünf Jahre später war vom „überragenden Interesse der Allgemeinheit“ an diesem Deal offenbar nicht mehr viel übrig: Die Veba reichte die Gelsenberg-Beteiligung 1979 an BP weiter. Mit Billigung des Wirtschaftsministers, aber unter Auflagen. Quelle: AP
1981 war der Wirtschaftsminister erneut gefragt, als die IBH-Gruppe des windigen Firmenjongleurs Horst-Dieter Esch (im Bild) den Betonpumpen-Hersteller Wibau übernehmen wollte. Die Entscheidung endete in einem Fiasko. Otto Graf Lambsdorf überstimmte die Bedenken des Kartellamtes per Ministererlaubnis. Der FDP-Politiker sah in der internationalen Konkurrenzfähigkeit des Esch-Konzerns einen „gesamtwirtschaftlichen Vorteil“, der „im überragenden Interesse der Allgemeinheit“ liege. Doch siehe da: Keine zwei Jahre später war die IBH-Wibau-Gruppe pleite und Esch wurde wegen Untreue und aktienrechtlicher Verstöße verurteilt. Er saß dreieinhalb Jahre ab. Wibau-Chef Spicka wurde gar wegen Betrugs und Bilanzfälschung zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Quelle: dpa
1989 gelang es Daimler, die Fusion mit dem Luft- und Raumfahrtkonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) durchzusetzen. FDP-Wirtschaftsminister Helmut Haussmann verband die Genehmigung aber mit großen Auflagen. Das sorgte für Unmut bei der Opposition: SPD-Vertreter drohten, gegen die Entscheidung vor Gericht zu ziehen. Quelle: DAPD
Eon pokerte hoch – und gewann: Nach monatelangem Verhandlungen einigte sich der Energiekonzern 2002 außergerichtlich mit allen Gegnern der Fusion mit Ruhrgas. Der Wirtschaftsminister genehmigte mit Auflagen. Das Bundeskartellamt und die Monopolkommission hatten die Fusion zwar abgelehnt - sie hielten die Gefahr für den freien Wettbewerb für zu hoch -, doch Experten befürworteten den Deal. Eon als auch Ruhrgas würden international gestärkt, hieß es. Zehn Jahre nach der Übernahme war der Name Ruhrgas verschwunden. Quelle: dpa

Chaos auch in der Klimapolitik. Mit Amtsübernahme hatte Gabriel die Zuständigkeit für die Energiewende in sein Ministerium geholt. Schon einige Monate später kündigte er an, ältere Kohlekraftwerke mit einer Strafabgabe zu belegen. Als daraufhin aber nicht nur RWE und E.On auf die Barrikaden gingen, sondern auch Streit mit den Gewerkschaften um Arbeitsplätze drohte, kehrte Gabriel um. Aus der Abgabe wurde eine Kohlestromförderung, die den Konzernen Einnahmen garantiert, um ihre Dreckschleudern als stille Reserve am Netz zu lassen.

Oder der neue Linkskurs. Noch auf dem Parteitag im vergangenen November hatte Gabriel nach seiner Wiederwahl mit desaströsen 75 Prozent der Stimmen trotzig getönt, dass sich seine Partei nun über eines klar sein müsse: Es sei mit Dreiviertelmehrheit entschieden worden, wo es langgehe. Ein Kurs für die Leistungsträger, die arbeitende Mitte. Doch seitdem ist ein anderer Gabriel zu besichtigen: die Ein-Mann-Schutztruppe der kleinen Leute. Der Rentenbeschützer. Der Kümmerer. Mehr Lafontaine als Schröder.

Wirtschaftsminister Gabriel soll sich laut einem Bericht heimlich mit Edeka-Chef Mosa und Verdi-Chef Bsirske getroffen haben, um über die Supermarkt-Fusion zu sprechen. Das Ministerium weist die Vorwürfe zurück.

Weiß man um die eigene Schwäche, zu schnell Stimmungen nachzugeben, kann man Vorkehrungen treffen, sie einzuhegen. Gabriel aber hat sie in einem Amt institutionalisiert. Als am 17. Dezember 2013 das dritte Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel vereidigt wurde, glühte Gabriel fast vor Stolz. Wirtschaftsminister. Er. In der Tradition von Helmut Schmidt und Karl Schiller. Doch seine Partei haderte: „Vizekanzler und Wirtschaftsminister sind eben keine SPD-Themen“, hieß es von der linken Basis. SPD und Ökonomie, sollte das heißen, gehörten eben nicht zusammen. Freunde hatten ihm deshalb geraten, lieber Finanzminister zu werden. Doch Gabriel wollte unbedingt den Gegenbeweis führen: dass die SPD Wirtschaft kann.

Was hatte er nicht alles für Pläne: Er wollte einen linken Liberalismus gründen. Die soziale Marktwirtschaft neu definieren. Die Industriepolitik zum Wohle der Arbeitnehmer reformieren. Stattdessen kombinierte er zwei Ämter, die sich widersprechen und ihn in eine ständige Sowohl-als-auch-Politik zwingen. Für Freihandel und gegen Freihandel. Für Liberalismus und für Beihilfen. Für Klimaschutz und für Kohle.

Überreizung und Überreaktion

Gabriel hat Talent zuhauf, zweifellos. Und natürlich: Ein Politiker muss seine Positionen überdenken, wenn sich die Realität wandelt, wenn neue Fakten auf den Tisch kommen oder die Stimmung kippt.

Aber Gabriel hat zu viel: vor allem zu viel Sensibilität. Überreizung und Überreaktion sind die Folge.

Er kann wohl nicht anders. Im Willy-Brandt-Haus kennen sie schon das Ritual, das seinen Einwürfen oft vorausgeht – wenn der Chef Talkshow spielen möchte. Seine Mitarbeiter bekommen dann den Auftrag, eine kleine Runde für ihn zusammenzustellen. Mal geht es um Bildung, mal um Flüchtlinge. Gabriel will dann vier, fünf Gäste um sich, aus der Praxis, der Wissenschaft, aus Kunst und Kultur, Politiker eher selten. Es ist eine Fortbildung im Schnellverfahren. „Er saugt förmlich die Energie aus den Kontrasten und Kontroversen, die sich auftun“, sagt einer, der ihn sehr regelmäßig berät.

Gabriel hat sich im Ministerium und in der Parteizentrale mit sehr vielen klugen, cleveren Männern umgeben, die ihrem Chef permanent neues, manchmal vollkommen gegenläufiges Denkfutter kredenzen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen kann, ist, dass seine Berater vielleicht zu klug und clever sind – und ausschließlich männlich. „Er bräuchte“, so sagt es ein Vertrauter, „einen Berater für all seine Berater.“ Vielleicht auch jemanden, der ihm häufiger sagen würde, dass es besser wäre, einen Gang zurückzuschalten.

Die SPD-Führung

So aber pöbelt Gabriel nach dem richterlichen Stopp der Ministererlaubnis im Fall Kaiser’s-Tengelmann: „Das Urteil enthält eine ganze Reihe falscher Tatsachenbehauptungen.“ Unrichtige Termine, unvollständige Gesprächszusammensetzungen. „Das Gericht hat entweder einen falschen Eindruck oder ist falsch informiert“. Kein nüchternes Statement – ein Angriff. Und eine fragwürdige Behauptung, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Doch Gabriel ist im Rausch: Er als Kämpfer für 16 000 Jobs, als Freund der Gewerkschaften. So sieht er sich gerne. „Sigmar Gabriel hat da ganz klar als SPD-Chef gehandelt, nicht als Wirtschaftsminister“, sagt dazu Kerstin Andreae, Vize-Fraktionschefin der Grünen. Ihr Schluss: „Gabriel hat die Ministererlaubnis missbraucht.“

Oft wurde Gabriel seine erratische Natur als Sprunghaftigkeit ausgelegt. Doch das trifft es nicht. Sprunghaft ist nur jemand, der unzuverlässig ist. Gabriel nicht. „Gabriel traut sich was. Der ist nicht so ein Bangebüx wie all die Wirtschaftsminister vor ihm“, sagt Henning Scherf. „Sigmar ist ein Political Animal. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, ein untrügliches politisches Gespür“, meint der frühere Grünen-Vormann und Gabriel-Wegbegleiter Jürgen Trittin. „Aber seine Ungeduld verführt ihn oft, sich nur auf dieses Bauchgefühl zu verlassen. Das konnte er in den Jahren als Umweltminister zügeln. Seitdem fällt es ihm wieder sichtlich schwerer.“

Am schönsten aber erklärt es Karl-Heinz Funke, der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister: „Mit Sigmar ist es wie mit den Pferden: Die Oldenburger Pferde ziehen den Wagen, auch wenn es schwer ist. Das Hannoveraner Pferd ist etwas spritziger. Jedes gute Pferd schlägt mal über die Stränge. Aber ein Hannoveraner öfter als ein Oldenburger.“ Funke muss es wissen, er hat einen Pferdehof kurz vor der Nordsee. 50 Jahre lang war Funke in der SPD. Und lernte so Anfang der Neunzigerjahre auch Gabriel kennen – das Hannoveraner-Pferd: „Sigmar ist oft dabei, ohne vorher mal zu fragen: Wie machen wir das eigentlich?“

Wenn Funke über Gabriel spricht, dann ist da eine ganze Menge Bewunderung für jemanden, der Menschen für sich gewinnen kann, der rackert, der dabei aber immer wieder an seiner Partei scheitert. „Sigmar hätte beweisen können, dass die SPD Wirtschaftskompetenz hat. Aber das hat in den drei vergangenen Jahren nicht geklappt“, sagt Funke. Es sei ein Fehler von Gabriel gewesen, den wirtschaftsfreundlichen Kurs zu verlassen. Aber die Partei habe ihm das aufgezwungen. „Sie müssen ein gutes Pferd laufen lassen, auch wenn es ein Hannoveraner ist. Sie machen das Pferd kaputt, wenn sie die Zügel zu eng halten.“

Die Bilanz der Unternehmer

Diese Zügel aber lässt die SPD Gabriel immer wieder spüren. Sie wollen ein linkes Programm für die Bundestagswahl, keinen neuen Agenda-Kurs. Sie wollen nicht den unbedingten Erfolg. Vor allem wollen sie am Ende auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.

Und so, wie es aussieht, will Gabriel ihnen folgen.

Entsprechend gemischt fällt seine Bilanz bei der Wirtschaft aus. Da ist etwa Dirk Roßmann, Chef der Drogeriekette, der Gabriel seit 20 Jahren kennt. „Das mit dem Wirtschaftsministerium heute ist ein extrem schwieriges Feld. Die Probleme sind derart kompliziert und vielschichtig, da hat er nichts Entscheidendes ändern können“, sagt er. Auch als SPD-Chef sei es schwierig: „Das Amt so auszuführen, dass alle Flügel innerhalb der SPD zufrieden sind, ist aus heutiger Sicht unmöglich.“

SPD-Chef Sigmar Gabriel wünscht sich einen Konkurrenzkampf um die Kanzlerkandidatur seiner Partei. In einem Interview räumt er aber auch ein, dass die Chancen der SPD auf eine Kanzlerschaft derzeit schlecht stehen.

Härter sagt es ein Vertreter der Old Economy, wie Gabriel der Schwerindustrie ideologisch näher als irgendwelchen Windmühlen. Das verbindet. Allerdings nicht weit genug, als dass der Manager seinen Namen in der Zeitung lesen will. Anonym aber sagt er: „Es gibt Widersprüche in Gabriels Leben. Ich bewundere an ihm, wie viel Arbeit er sich aufhalst, obwohl er sieht, dass manche Dinge gar nicht miteinander vereinbar sind.“ Die Energiewende etwa, die Gabriel ins Wirtschaftsministerium geholt habe. „Schlau? Mutig, ja. Aber nichts für Erfolg in einer Legislaturperiode.“

Dass der SPD-Chef es trotzdem gewagt hat, dass er das Wirtschaftsministerium besetzt hat und nun wohl auch die Bürde der SPD-Kanzlerkandidatur trägt, erklärt der Mann mit einem „fast preußischen Pflichtgefühl“, das Gabriel habe. „Der sagt nicht: Schau’n wir mal.“ Aber er sei eben ein Kümmerer, der glaube, immer einen Beitrag leisten zu müssen – zu allem.

Gabriels große Stärke ist es, Nähe zuzulassen. Gleichzeitig ist es auch seine große Schwäche. Wer Menschen nah an sich heranlässt, der kann ihre Herzen erobern. Wer sie zu nah heranlässt, ist schnell angreifbar. Bei Gabriel führt das zu einem ständigen Reflex: Er schlägt um sich, um nicht selbst getroffen zu werden. Und wenn er doch etwas abbekommt, keilt er mit voller Härte zurück.

So wie in Salzgitter, Mitte August. Gabriel ist auf einer SPD-Veranstaltung. Eine Gruppe Neonazis will die Party stören. Sie pöbeln. Ein Mann ruft Gabriel zu: „Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt. Und was tust du? Du zerstörst es.“ Zunächst lächelt der Vizekanzler nur müde, dann packt es ihn, er dreht sich um und zeigt den Rechten den Stinkefinger. Sie haben es geschafft, Gabriel hat die Contenance verloren.

Vielleicht bewundert der Vizekanzler deshalb seine Regierungschefin so. Gabriel mag Merkel, ihren Witz, ihre unprätentiöse Art, einfach die Tatsache, dass sie zu der wurde, die sie ist. Vor Jahren unterbrach Gabriel eigens seinen Urlaub, um für sie an ihrem 60. Geburtstag eine kleine, launige Rede zu halten „Liebe Frau Merkel, es ist wenigstens zeitweise eine große Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten“, sagte Gabriel. Er glaubt, dass sie manches gemeinsam haben: beide ehemalige Umweltminister. Beide aufgestiegen gegen Widrigkeiten. Und dann ist da noch der Umstand, dass er von ihr mehr Respekt und Aufrichtigkeit erfährt als von so manchem in seiner eigenen Partei.

Noch ist bis zur nächsten Bundestagswahl ein Jahr Zeit, aber schon jetzt schließen SPD und die Linkspartei ein Regierungsbündnis nicht mehr aus.

Und dennoch: Merkel ist so, wie er nie sein wird. Kühl, kontrolliert, manchmal stoisch. Umso mehr wird Gabriel sich in die Auseinandersetzung werfen. Wenn er den September übersteht, dann wird er die Kanzlerkandidatur an sich ziehen. Es gibt eigentlich niemanden in seinem Umfeld, der das noch bezweifelt. Gabriel hat bedeutende Fürsprecher, die ihm nahelegen, im Herbst das Ministeramt niederzulegen und nur noch Kandidat zu sein, Herausforderer. Ein freier roter Radikaler. Ein Mann voller Leidenschaften gegen die Frau ohne Eigenschaften.

Er würde es lieben, die Hitze der Schlacht, diese maximale Herausforderung, mit offenem Visier. Die vermeintlich Unverwundbare verwundbar zu machen, das wäre der ultimative Kick. 2017 wird sein Meisterstück. Oder sein Untergang. So oder so: Es wird ein echter Gabriel.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%