Der Soziologe Gerhard Schulze im Interview "Risiko ertüchtigt uns"

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Gerhard Schulze, Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung Quelle: Robert Brembeck für WirtschaftsWoche

Es geht also im Kapitalismus um ein Wechselspiel von Wachstum und Wohlergehen?

Ich spreche aus zwei Gründen nicht so gern von Kapitalismus. Erstens, weil mir der Begriff zu normativ ist, das heißt: zu eng mit einer Kritik verknüpft, die einen Klassengegensatz beschwört. Und zweitens, weil mir der Begriff zu ökonomistisch ist. Ich spreche lieber vom Steigerungsspiel.

Die Hauptsache ist nicht das Geld, die Hauptsache sind Wahlmöglichkeiten: mehr Mobilität, bessere Gesundheit, längeres Leben, höherer Lebensstandard, gesteigerte Kommunikationsmöglichkeiten, aber auch höhere Bildung von immer mehr Menschen, Wissensfortschritt, innovative Technik, Demokratie, Menschenrechte.

Mit dem Begriff des Kapitalismus wird das Wesentliche verfehlt: die permanente Erweiterung des Möglichkeitsraums. Man kann auch Freiheit dazu sagen. Für Marx und seine Epigonen heißt Kapitalismus Knechtschaft, was aber die Menschen tatsächlich erleben, ist das genaue Gegenteil.

Erleben nicht viele Menschen die theoretische Freiheit als praktischen Zwang? Optionen wahrzunehmen, dem Offenen zu begegnen – das hat doch materielle Voraussetzungen.

Na ja, wenn man sich heute die Situation von Hartz-IV-Empfängern ansieht und sich fragt: Wie wohnen diese Menschen? Was essen sie, oder besser gesagt: was könnten sie essen? Welchen Anschluss an die Massenmedien haben sie? Über welche Mobilität verfügen sie? – dann stellt man fest, dass die konkreten Handlungsmöglichkeiten dieser Menschen heute deutlich größer sind als die der Großelterngeneration in vergleichbarer Lage.

Lebensschwierigkeiten haben heute viel mehr als früher mit dem individuellen Ungeschick zu tun, das Leben innerhalb der gegebenen Möglichkeiten zu gestalten. Es ist ein zentrales Missverständnis, zu meinen, den Leuten ginge es mit mehr Geld automatisch besser. Wichtiger sind heute Bildung und die Fähigkeit, den Alltag zu organisieren, mit Zeit umzugehen, artikulationsfähig zu werden – auch sich selbst gegenüber.

Das müssen Sie uns erklären.

Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte der Digitalkamera. Es brauchte Ingenieurwissen, um sie zu entwickeln, und viel Geld, um sich eine zu leisten. Jetzt bekommt man alles nachgeschmissen, die Hardware und die Software zur Bildbearbeitung. Plötzlich kommt es nicht mehr auf Technik und Geld an, sondern auf Fantasie, Ästhetik, Präsenz. Für die Entwicklungswege des Steigerungsspiels ist das symptomatisch. Es fängt eindeutig an, und am Ende begegnet man dem Ungewissen.

Begegnung mit dem Ungewissen – das klingt nach Risiko. Wie gehen die Bürger in der verwöhnten Moderne mit Risiken um?

Es gehört zum Wesen der Moderne, dass ständig neue, noch ganz unerprobte Si- » tuationen auf die Menschen zukommen. Die Moderne lebt vom Neuen. Ihre Fortschritte sind ohne Risiken nicht zu haben. Andererseits sind in der Moderne viele Risiken verringert worden. Ein Beispiel: Unsere Lebenserwartung wächst Jahr für Jahr um etwa drei Monate. Trotzdem blicken wir merkwürdig fasziniert auf die Schattenseiten des Fortschritts.

Warum?

Weil unsere Risikoempfindlichkeit bei gleichzeitiger Abnahme des Risikos zunimmt. Unsere Angst ist insofern eine Art Luxusprodukt. Das weitet unseren Blick für die Risiken und schmälert unseren Blick auf die Chancen. Unser Alltagsleben ist heute so risikoarm wie nie zuvor. Wir sind umstellt von Garantiemächten, die dafür sorgen, dass alles läuft wie geschmiert – und gleichzeitig spüren wir ein diffuses Unbehagen: Es könnte ja was passieren.

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