Der Soziologe Gerhard Schulze im Interview "Risiko ertüchtigt uns"

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Woran liegt das?

Wir haben keine Erfahrung mehr im Umgang mit wirklichen Ernstfällen. Das führt dazu, dass wir Katastrophen geradezu lustvoll herbeifantasieren. Zum Beispiel die Klimakatastrophe, die ich für ein erstaunliches Phänomen massenhafter Verblendung halte. Es ist in keiner Weise nachgewiesen, dass die Erderwärmung von Menschen verursacht ist.

Doch ausgerechnet die Naturwissenschaft, für die Skepsis konstitutiv ist, lässt keine offene Diskussion zu, sondern hält mit einem an die römische Kurie gemahnenden Dogmatismus an einem einzigen Erklärungsansatz fest. Trotzdem ist die Resonanz riesig – warum? Weil die Urangst der Saturierten hier ihr Ventil findet.

Der Finanzcrash wurde sogar mit dem Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 verglichen, das den Fortschrittsglauben der Aufklärung erschütterte. Ein Fall von Alarmismus?

Die Menschen haben seinerzeit gelernt und sich darauf besonnen, dass Gott die Welt nicht als Rosengarten für uns eingerichtet hat und die Menschheit sich nicht auf seine gütigen Interventionen verlassen kann. Sie muss ihr Schicksal schon selbst in die Hand nehmen. Genau damit startete das Projekt des Steigerungsspiels, das die Menschen in unbekannte Räume hineinführte.

Der Lebensstandard von vielen Milliarden Menschen, die ohne die Errungenschaften der Moderne sehr viel mehr Hunger leiden müssten, konnte nur deshalb verbessert werden, weil etwas riskiert wurde. Entsprechend gilt: Wegen der Finanzkrise das ganze Projekt der Moderne infrage zu stellen und den Kapitalismus gleich dazu, das hat etwas Lächerliches.

Die Moderne bleibt eine Erfolgsgeschichte...

...und ihre Schlüsselfigur ist der Abenteurer, der ins Ungewisse aufbricht. Das gerät im verwöhnten Westen leicht in Vergessenheit. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett stellt Flexibilität nicht als etwas Erstrebenswertes dar, sondern als eine Zumutung der Moderne.

Warum tun wir uns mit der Freiheit so schwer?

Weil sie mit dem Verlust von Vertrautheit stiftenden Strukturen verbunden ist. Je mehr Optionen sich mir eröffnen, desto stärker bin ich als Gestalter meines Lebens gefragt. Dadurch wächst auch das Risiko, zu versagen. Wenn man aus einer Situation der völligen Unfreiheit in eine der Entgrenztheit versetzt wird, wie Findelkind Kaspar Hauser, dann herrscht völlige Ratlosigkeit. Man muss erst langsam lernen, mit der Freiheit umzugehen, und ich glaube, wir sind auf einem guten Weg dorthin.

Sie haben das Drama der Freiheit als den „Versuch erwachsen zu werden“ bezeichnet. Ist die Überempfindlichkeit gegenüber Lebensrisiken ein Zeichen der Unreife, womöglich der Infantilität?

Ja. Infantilität ist die Unfähigkeit des Menschen, sich der Wirklichkeit zu stellen. Man will etwas, was es nicht geben kann: Freiheit ohne Risiko. Erwachsen werden dagegen heißt, nah an der Wirklichkeit zu sein. Zu wissen, was man tut, und die Konsequenzen dafür zu tragen. Geistige Reife hat immer mit realistischer Wahrnehmung zu tun. Anders gesagt: Wer sich Wirtschaft und Gesellschaft als Idylle wünscht, der hat sie nicht verstanden.

Aus der Finanzmarktkrise lernen heißt vor allem, die Risiken des Lebens anzunehmen?

Bei allen Gefahren, die der Markt bereithält – seine Vorteile überwiegen bei Weitem. Mehr noch: Er macht uns sogar im Abschwung zu emotionalen Krisengewinnlern. Das Erleben des Risikos hat auch etwas Stimulierendes. Es ertüchtigt uns. Wissen Sie, was George Bernard Shaw gesagt hat, als er gefragt wurde, was er von den Verheißungen des Paradieses halte? Er hat gesagt, er bitte Gott, in die Hölle zu dürfen. Im Paradies sei es ihm zu langweilig.

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