Deutsch-Türken Sie wählen ihre Heimat, nicht Erdogan

Viele Deutsch-Türken haben mit der Politik Erdogans nicht viel am Hut. Dennoch unterstützen sie den türkische Präsidenten und seine Partei AKP. Er gibt ihnen das vermisste Gefühl, ernst genommen zu werden. Eine Analyse.

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Für viele Deutsch-Türken ist die Unterstützung Erdogans Ausdruck ihrer Heimatverbundenheit. Quelle: dpa

Zürich Tausende Deutsch-Türken kommen in deutschen Arenen oder Stadthallen zusammen, wenn der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan dort auftritt. Im Februar 2014 waren es 4000, im Mai 2014 sogar knapp 16.000. Und selbst wenn eher unbekannte Regierungsmitglieder wie der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci in einem kleinen Hotelsaal in Köln das Wort an ihre Landsleute richten wollen, strömen die Anhänger der Regierungspartei AKP zu den Kundgebungen und schwenken türkische Flaggen.

In Deutschland ist eine Debatte darüber entstanden, ob der türkische Präsident und seine Minister überhaupt noch in Deutschland auftreten dürfen, um für eine umstrittene Verfassungsänderung im eigenen Land zu werben. Lange hatte sich kaum ein türkischer Politiker für die Mitbürger in der deutschen Diaspora interessiert. Unter Erdogan hat sich das aber geändert: Er umgarnt erfolgreich die Auslandstürken in Europa. Die Zustimmung zu seiner Politik ist unter den in Deutschland lebenden Türken höher als in der Heimat.

Die Gründe dafür liegen in den Anfängen der türkischen Zuwanderung nach Deutschland. Ab dem Jahr 1961 kamen aufgrund des Anwerbeabkommens mit der Türkei rund 900.000 Menschen nach Deutschland, deren Arbeitskraft hier benötigt wurde. Viele von ihnen kamen aus dem hinteren Anatolien. Sie brachten ihre konservativen und religiös orientierten Weltbilder aus der Provinz mit nach Deutschland. Und während sich ihre alte Heimat modernisierte und alte Rollenbilder längst ablegte, lebten die alten Traditionen und Weltanschauungen in den Köpfen der Deutsch-Türken fort.

Heute leben gut drei Millionen Menschen mit türkischem Hintergrund in der Bundesrepublik. 1,4 Millionen von ihnen sind in ihrer alten Heimat wahlberechtigt. Weil die damaligen Bundesregierungen davon ausgingen, die Türken kämen nur zum Arbeiten und würden bald wieder zurückgehen, gab es nie ein Konzept, um diese große Gruppe Ausländer zu integrieren.

Die Folgen können in jeder sozialwissenschaftlichen Studie zu dem Thema nachgelesen werden: Türkischstämmige in Deutschland sind durchschnittlich schlechter gebildet, werden schlechter bezahlt und sind häufiger arbeitslos. Ihr Armutsrisiko ist größer als das von Deutschen ohne Migrationshintergrund, der durchschnittliche Nettolohn eines Haushalts von Deutsch-Türken ist rund ein Drittel niedriger. „Die Deutschen haben nur wenig Hoffnung in die Türken gesetzt“, erklärte Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster, in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“.

Noch schlimmer aber: Ihnen fehlten wegen der sozialen Abgrenzung die Vorbilder, um aufzusteigen, schreibt der Jurist und Kolumnist Mehmet Daimagüler in seinem 2011 erschienenen Buch „Kein schönes Land in dieser Zeit“. Sowohl was ihre neue als auch ihre alte Heimat anging, hätten viele Deutsch-Türken das Gefühl gehabt, dass niemand an ihrem Weiterkommen interessiert gewesen sei. Zwar geben laut einer Umfrage unter Türkeistämmigen in Deutschland 90 Prozent der Befragten an, mit ihrem Leben in der Bundesrepublik zufrieden zu sein. Trotzdem lautete Daimagülers trostloses Fazit: „Wir bleiben die Kanaken, egal, was wir tun.“

Erdogan erkannte diese Wunde und wusste, den Schmerz zu seinen Gunsten umzuleiten. In seiner Rede 2008 in der Kölner Lanxess-Arena warnte appellierte er an den Nationalstolz der Auslandstürken. „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, klagte er vor etwa 16.000 Anhängern. Sie jubelten ihm zu.


„Durchtrennt nicht Eure Bande zur Türkei“

In Berlin begann daraufhin eine Debatte darüber, wie stark sich Deutsch-Türken an die hiesige Kultur anpassen sollten. Diese Debatte war zum Teil stark von Ressentiments geprägt und verstärkte noch den von Erdogan gewünschten Effekt. Drei Jahre später legte er nach: In Düsseldorf forderte Erdogan seine Landsleute zwar auf, sich zu integrieren. Doch er zog nach: Eine völlige Anpassung an die deutsche Kultur lehne er ab. „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.“

Erdogans Anstrengungen, die Türken in Deutschland für sich zu gewinnen, tragen Früchte. Bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2015 wählten 60 Prozent der hierzulande Wahlberechtigten seine AKP, mehr als ein Prozentpunkt des gesamten Wahlergebnisses für die Regierungspartei. Dabei sprechen er und seine Minister nur selten über aktuelle Wahlprogramme. Noch dazu könnte ihnen ein heimisches Konjunkturprogramm oder auch der jetzt angestrebte Wandel zum Präsidialsystem egal sein, weil sie als Auslandstürken gar nicht betroffen wären.

Hinzu kommt: Erdogan ist tatsächlich der wohl erfolgreichste Politiker seines Landes seit dem Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal „Atatürk“. Erdogan gewann seit dem Jahr 2002 jede Wahl, er modernisierte zahlreiche Wirtschaftsbereiche. Außerdem liberalisierte er das zuvor strikt säkulare Staatswesen. So dürfen weibliche Beamte seit Erdogan wieder ein Kopftuch bei der Arbeit tragen, seit kurzem sogar, wenn sie Soldatin sind. Während das in der Türkei viele Türken ärgert, hält die überwiegend traditionalistisch orientierte Zuwandererschicht in Deutschland dies für einen längst überfälligen Schritt. Sie sind stolz auf ihren „Reis“, was auf Türkisch „Anführer“ bedeutet.

Dass die Türken für Erdogan überhaupt so empfänglich sind, hat einen weiteren Grund. Im selben Jahr, in dem Erdogan in Düsseldorf aufgetreten war, machte Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ von sich reden. Er fand vermeintlich genetische Ursachen für die schlechte Integration vieler Migranten in Deutschland. Die Ressentiments gegen Muslime, die nach den Attentaten vom 11. September 2001 stärker geworden waren, hatten da bereits bei vielen Migranten für Frust gesorgt.

Das Ergebnis: Viele Türkeistämmige interessieren sich mehr für ihre alte, als für ihre neue Heimat. Sie lesen türkische Zeitungen, schauen türkisches Fernsehen und beten in Moscheen der türkischen Religionsbehörde Ditib. Dass Türken in deutschen Medien und im politischen Berlin nur dann eine Rolle spielen, wenn über ein Kopftuchverbot debattiert wird, bestärkt sie.

Im Februar 2014 rief Erdogan seinen Anhängern in Berlin zu: „Ich will, dass Ihr stolz seid, in Deutschland zu leben, aber ich will auch, dass Ihr stolz seid auf die Fahne der Türkei.“ Sie seien Kinder eines großen Landes. „Durchtrennt nicht Eure Bande zur Türkei. Verhindert vor allem, dass die junge Generation den Glauben und die Wurzeln vergisst und zu Ausländern wird.“

Wenn Deutsch-Türken Erdogan wählen, wählen viele einfach ein Stück Heimat.

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