Deutsche Bürokratie „Langsames Arbeiten in Behörden kann rational sein“

Bürokratie ist von innen heraus nur schwer reformierbar Quelle: dpa Picture-Alliance

Warum kommt  der Bürokratieabbau seit Jahrzehnten nicht voran? Wettbewerbsökonom Justus Haucap über die Ursachen von ineffizienter Verwaltung, mögliche Gegenstrategien – und das lange Leben des „Bundesschnapsamtes“.

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Justus Haucap ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Gründungsdirektor des dortigen Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE). Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender der Monopolkommission.

WirtschaftsWoche: Herr Haucap, die deutsche Verwaltung hat offenkundige Effizienzprobleme, zugleich ist die Regelungswut der Politik ungebrochen. Warum gelingt, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, der Bürokratieabbau nicht?
Justus Haucap: Dafür gibt es viele Gründe. Fakt ist: Bürokratieabbau ist Sisyphus in Reinform, und das Problem der überbordenden Bürokratie ist national nicht mehr zu lösen. Es gibt Schätzungen, wonach mittlerweile weit über die Hälfte aller neuen Vorgaben aus Brüssel kommt. Die Megaaufgabe des Bürokratieabbaus muss daher weit stärker als bisher auf die europäische Ebene getragen werden. Ein Ansatzpunkt ist aber auch die vorherrschende Anreizstruktur in Behörden.

Was meinen Sie damit?
Wie Unternehmen versuchen, ihren Gewinn zu steigern, wollen Behördenchefs ihren Einfluss steigern, und der bemisst sich auch an der Zahl der Untergebenen. Wir haben es mit Informationsasymmetrien zu tun: Von außen lässt sich nicht sagen, wo genau es in einer Verwaltung Ineffizienzen gibt. Intern geht das schon, aber mir ist kein Fall bekannt, wo eine Behörde zum Ministerium gegangen ist und gesagt hat: Wir schaffen die Arbeit auch mit 20 Mitarbeitern weniger. Hinzu kommt: Die Gewinne der Entbürokratisierung sind oft Streugewinne, von denen der einzelne Bürger kaum etwas merkt. Die Kosten sind aber oft lokal konzentriert.

Zum Beispiel?
Es gab bis Ende 2018 in Offenbach die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, im Volksmund „Bundesschnapsamt“ genannt. Diese Behörde brauchte niemand, trotzdem hat ihre Abschaffung Jahrzehnte gedauert. Denn die Ersparnis betrug pro Kopf der Bundesbürger nur ein paar Cent, da gab es für Politiker also nicht viel zu gewinnen. Die Lokalpolitiker vor Ort jedoch hatten gut 200 Arbeitsplätze vor Augen und haben zusammen mit den Beschäftigten ordentlich Stimmung gemacht.

Wie könnte man die öffentliche Verwaltung generell effizienter machen?
Wir sollten bestimmte Tätigkeiten der Verwaltung privatisieren...

…oh je, der Dauerbrenner unter den Vorschlägen. Und einer, der null Realisierungschance hat.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dass man seit langer Zeit mit seinem Auto nicht mehr alle zwei Jahre zum TÜV muss, sondern auch alternativ zur privaten Dekra fahren kann, hat der Verkehrssicherheit in Deutschland ja offenkundig nicht geschadet. Ich weiß, dass es politisch nicht en vogue ist, aber wir könnten deutlich mehr Leistungen outsourcen. In der Staatsverwaltung schlummern noch immense Effizienzreserven.

Nämlich? Machen Sie es konkret.
Baugenehmigungen dauern in Deutschland eine Ewigkeit. Aber wieso muss ein Bauantrag von einer Behörde genehmigt werden? Das könnte im Grunde auch ein – natürlich zertifizierter – Privatanbieter erledigen. Das wäre revolutionär, aber für die betroffenen Behörden und Behördenchefs natürlich Teufelszeug, weil sie ihre Hoheitsrechte nicht verlieren wollen.

Man könnte aber auch sagen: Rechtssicherheit geht vor Schnelligkeit.
Das schließt sich doch nicht aus! Das Problem ist oft nicht, dass es zu viele Regeln gibt. Sondern dass die Menschen, die diese Regeln ausführen, sich doppelt und dreifach absichern, bevor sie etwas entscheiden. Es gibt Studien, dass Menschen, die gern in einer Behörde arbeiten, in der Regel risikoavers sind. Wir haben also im öffentlichen Dienst bereits beim Personalrecruiting ein Selektionsproblem. Wobei man fairerweise sagen muss, dass die Dokumentationspflichten und Haftungsrisiken in den vergangenen Jahren immer stärker gewachsen sind. Insofern kann langsames Arbeiten aus Sicht der Beschäftigten durchaus rational sein.

Lesen Sie auch: Es ist eine oft emotional geführte Debatte mit politischer Sprengkraft: Stehen Beamte im Vergleich zu Angestellten finanziell deutlich besser da? Ein Faktencheck zeigt, wie groß die Vorteile wirklich sind – und wie viel mehr Gehalt nötig ist, um sie auszugleichen.

Sind Bürokratien aus sich selbst heraus also nicht reformierbar?
Man sollte es zumindest versuchen. Wir brauchen mehr Transparenz und eine regelmäßige Evaluierung von Behörden durch externe Gutachter. In Ansätzen gibt es das in zwei Bereichen. Die Monopolkommission hat auch die Aufgabe, die Arbeit und Amtspraxis von Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt zu „würdigen“, wie es so schön heißt. Daraus folgen zwar keine rechtlichen oder politischen Konsequenzen. Aber weil der Bericht öffentlich ist, diszipliniert das in gewisser Weise. Ähnlich ist es mit den Wirtschaftsforschungsinstituten. Sie müssen sich alle sieben Jahre einer Evaluation durch die Leibniz-Gemeinschaft stellen. Sie können also nicht wahllos vor sich hin forschen, sonst ist irgendwann der staatliche Geldhahn zu.

Behörden sind keinem Wettbewerb ausgesetzt, dem sie sich stellen müssen. Deshalb brauchen wir ein Benchmarking, meinetwegen auch ein System des „Name and Shame“, das öffentlich macht, wer schlechte Leistungen bringt. Was meinen Sie, wie heilsam es wäre, wenn die WirtschaftsWoche ein Ranking „Die zehn schlechtesten Gesundheitsämter Deutschlands“ ankündigen würde?

Wir werden drüber nachdenken. Aber wäre nicht auch eine stärkere Leistungsorientierung bei den Gehältern sinnvoll? Das öffentliche Dienst- und Besoldungsrecht lässt das derzeit nur eingeschränkt zu.
Ehrlich gesagt bin ich da skeptisch. Die Leistung im öffentlichen Dienst ist oft nur schwer messbar. Ein Leistungslohn aber muss sich an klar definierten Kriterien orientieren, sonst wird es eine Nasenprämie der Vorgesetzten. Und man kann auch schnell Fehlanreize setzen. Wenn ein Finanzbeamter Steuererklärungen doppelt so schnell durchwinkt wie der Kollege im Büro nebenan, ist er deshalb nicht zwingend der bessere, sondern prüft Sachverhalte vielleicht bloß schlampiger nach.

Oder nehmen Sie das Beispiel der Universitäten, wo es zusätzliche Gelder gibt, wenn die Zahl der Abschlüsse nach oben geht. Mir kann keiner erzählen, dass da nicht bisweilen Prüflinge durchs Examen kommen, die man eigentlich hätte durchfallen lassen müssen.

Mehr zum Thema: FDP und Grüne wollen in der kommenden Bundesregierung Deutschland zum Zuwanderungsmagneten für Fachkräfte machen. Doch die Rechtslage an sich ist nur ein Teil des Problems – viel öfter verzweifeln deutsche Unternehmen und ihre ausländischen Bewerber an den Behörden, sagt die Expertin Bettina Offer.

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