Deutschland setzt Umweltschutz nicht durch Der Diesel-Skandal war erst der Anfang

Dreckige Zeiten: Die Legende vom sauberen Diesel glaubt niemand mehr. Quelle: Getty Images

Umweltgesetze sollten bessere Luft, weniger Müll oder sparsame Elektrogeräte bringen. Doch der Staat kontrolliert lasch und zögert bei Strafen.

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Günther Blessing ist ein selbstbewusster Herr mit einiger Ausdauer. Diese Hartnäckigkeit hat sich für den 69-Jährigen aus Bermaringen bei Ulm gelohnt. Der Rentner setzte sich vor Gericht gegen den Autobauer Volkswagen durch. Und damit auch gegen den deutschen Staat.

Vor sechs Jahren hatte sich der Schwabe Blessing zwei Dieselautos angeschafft, einen Polo für die Ehefrau (für 19.000 Euro) und einen Passat Kombi (28.000 Euro) für sich. In der Werbung habe er schöne, saubere Autos gesehen. „Da flatterte ein weißes Tuch vor dem Auspuff – und es blieb blütenweiß“, erinnert er sich. Das gefiel ihm sehr.

Denn Blessing ist Naturfreund, er besitzt drei Streuobstwiesen und wollte „vernünftige“, also umweltfreundliche Wagen kaufen. Er vertraute den Angaben des Herstellers. Aber auch dem Staat, weil der die Angaben schließlich kontrollieren müsste. Heute weiß er: Diesen Glauben hätte er nicht haben sollen, die Diesel waren dreckiger als erlaubt und beworben. Und die Kontrollen lange mangelhaft. „Wären der Staat und die Autobauer nicht so verbandelt wie bei Volkswagen, hätte die Regierung diesen Betrug nicht so lange geduldet“, sagt Blessing. Da ist er sich mittlerweile sicher.

Der Rentner zog gegen Volkswagen vors Landgericht Ulm und bekam dort recht. Der Autobauer soll ihm nach einem ersten Urteil nun 15.800 Euro Entschädigung für den Polo aus dem Jahr 2012 zahlen. Auch für den Passat dürften die Chancen gut stehen, dass er Geld bekommt.
Manipulierte Diesel, deren Auspuff nur in der Werbung und im Labor saubere Luft rausblasen, sind die Folge einer zweifelhaften Umweltpolitik. Von Regierungen, die zwar harte Regeln erlassen – doch wenn eine Regel erst im Gesetz steht, ist sie Behörden anschließend ziemlich egal. Weil der Staat die Umsetzung kaum kontrolliert und bei Tricks und Täuschereien praktisch keine Strafen verhängt, lädt er zum Schummeln und Betrügen ein. Die Leidtragenden sind die Verbraucher, weil sie selbst kaum überblicken können, ob drin ist, was draufsteht. Schlecht dran sind außerdem die Hersteller, die nicht aufs Biegen und Brechen der Regeln setzen. Sie sind dann teurer oder liefern schlechtere Umweltwerte als die Konkurrenz.

Grün ist in der Bundesrepublik deshalb nur die Theorie. Deutschland bricht ständig seine Umweltgesetzte, auch jene, die von der EU vorgegeben werden. Im Frühjahr zählte das Bundeswirtschaftsministerium auf eine Anfrage der Grünen allein mehr als 70 EU-Vertragsverletzungsverfahren – auffällig viele davon im Bereich Umwelt und Verkehr. Fälle wie Dieselgate sind deshalb nicht die Ausnahme von der Regel. Sie haben Methode. Und das erschreckend häufig.

1. Benzinverbrauch
Wie bei Abgasen stimmt auch beim Kraftstoffverbrauch vieles überhaupt nicht. So verbrauchen Neuwagen in Europa im Schnitt 42 Prozent mehr Sprit, als von Herstellern angegeben werden. Das hat eine Untersuchung des International Council on Clean Transportation (ICCT) ergeben. Die ICCT ist eine unabhängige Forschungsorganisation, die den VW-Dieselskandal in den USA mit aufgedeckt hat. Die Entwicklung ist eindeutig: Noch vor zehn Jahren hatte der Unterschied zwischen den Papierangaben und tatsächlichen Verbrauchswerten nur rund 15 Prozent ausgemacht.

Ein Grund für die immer größer werdende Kluft liegt offensichtlich darin, dass der Kraftstoffverbrauch wie auch die Abgasbelastung meist nur im Testlabor ermittelt wird, bei normalen Fahrten auf der Straße aber etwa durch Anfahren und Bremsen viel mehr Kraftstoff verbraucht wird als unter Idealbedingungen. Die vermeintliche Sparsamkeit hält der Praxis nicht stand. Aber deutsche Konsequenzen? Fehlanzeige.

2. Haushaltsgeräte
Auch hier gilt: Schummelei ist an der Tagesordnung. Das Umweltministerium in Baden-Württemberg setzt deshalb eine Handvoll Beamte zur Marktüberwachung ein. In einer von Stuttgart aus koordinierten bundesweiten Aktion haben die Prüfer 2017 rund 107.000 Elektrogeräte, Pkws und Reifen überprüft – bei Händlern vor Ort und bei Internetanbietern. Die Kontrolleure untersuchten die Energielabel, die diese Waren tragen müssen. Die Angaben sollen Verbrauch und Leistung von Staubsaugern, Waschmaschinen, Glühbirnen, Kühlschränken, Autos oder Reifen offenlegen. Händler sind auch verpflichtet, das Label gut sichtbar anzubringen.

Die staatlichen Detektive beanstandeten im vorigen Jahr 7300 Produkte, also immerhin 6,8 Prozent der Proben. Besonders oft geschummelt wurde bei Staubsaugern sowie bei Lampen und Leuchten, die kein Label oder falsche Angaben trugen. Von den rund 1000 besuchten Händlern hatten immerhin 40 Prozent beanstandete Ware im Angebot. Fallweise kontrollierten Nichtregierungsorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) Lampen zusätzlich noch auf ihren Quecksilbergehalt und verklagen Hersteller, falls diese falsche Angaben machen. Von der DUH beauftragte Laboranalysen ergaben zuletzt mehr als das Zweifache des erlaubten Grenzwertes für Quecksilber in Kompaktleuchtstofflampen.

Das Problem auch hier: Die Produkte wirken ökologischer oder sparsamer, als sie sind. Doch die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering. Passiert es dann doch, kann der Klageweg dauern.

Green-Washing ist weit verbreitet

3. Immobilien
Auch im Großen wird betrogen. Beim Verkauf einer Immobilie müssen die Besitzer Kaufwilligen offenlegen, wie hoch der Energieverbrauch eines Gebäudes ist. Doch die tatsächlich nötigen Mengen an Fernwärme, Gas oder Öl sind oft um einiges üppiger als ausgewiesen. Also wird das Heizen teurer als erwartet. „Da wird am Computer vieles grün gerechnet“, beklagt der Sachverständige Klaus Knoll, der in Leipzig ein großes Ingenieurbüro betreibt.

Knoll kennt alle Tricks. Bei Fernwärme könne man bei ein und demselben Gebäude auf Werte im grünen oder im roten Bereich der Verbrauchsskala kommen, bei Öl- oder Gasheizungen lasse sich der Ausweis immerhin vom roten in den gelben oder vom gelben in den grünen Bereich verschieben. Je nachdem, welche mehr oder weniger realistischen Annahmen man bei der Berechnung zugrunde legt. Das ist legal, aber alles andere als hilfreich. „Niemand tut etwas dagegen“, sagt Knoll, dessen Firma auf die technische Ausrüstung von Gebäuden spezialisiert ist. Die Einzigen, die Interesse an verständlichen Angaben hätten, sind Mieter oder Käufer – und die sind meist ahnungslos.

4. Bioabfälle
Nicht nur teuer, sondern unappetitlich wird die Trickserei beim Müll, vor allem bei dem, was Gartenbesitzer auf den Kompost kippen oder bei gekochten oder verarbeiteten Essensreste. Die Deutschen müssen diese Reste aus dem Haushalt getrennt entsorgen – in der Biotonne. Allerdings haben bisher nur wenige Menschen diese Tonne, viele dürften sie nicht einmal kennen. Das ärgert Peter Kurth, den Chef des Bundesverbands der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE), gewaltig. Ohne Umsetzung der Politik könne die Branche nicht investieren. „Seit 2015 ist kaum etwas passiert“, ärgert sich Kurth. „Das Gesetz gilt jetzt auch schon drei Jahre.“ Kurth begann selbst mal als CDU-Politiker. Aber: „Wenn die Bundesregierung ihre Regeln nur beschließt und nicht umsetzt, kann sie es gleich bleiben lassen.“

In Berlin beispielsweise hat Wirtschaftssenatorin Ramona Pop von den Grünen nun verkündet, vom 1. April 2019 an in der ganzen Hauptstadt Biomüll einsammeln zu lassen – mehr als vier Jahre nach Inkrafttreten des Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Hört man Kurth länger zu, könnte man meinen, der Industrievertreter wünsche sich einen durchsetzungsstarken Umweltminister wie Jürgen Trittin (Grüne) zurück. Der Verbandschef hält die schwarz-rote Koalition jedenfalls für unentschlossen bis hilflos.

5. Motorradlärm
Wunsch und Wirklichkeit auch hier: Motorräder sind oft deutlich lauter als offiziell angegeben. Die Bundesregierung sieht trotzdem keine Handhabe, gegen falsche Angaben und zum Schutz von Anwohnern vorzugehen. Für die Typgenehmigung bescheinigten die Hersteller sich selbst, dass sie die zulässigen Lärmgrenzen einhielten, heißt es in der Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag. Auch würden für diese Werte gerade einmal „im Geschwindigkeitsbereich zwischen 20 und 80 km/h“ gemessen. Mehr nicht.

Zur Kontrolle des tatsächlichen Lärmpegels der Krafträder auf der Straße fühlt sich die Bundesregierung nicht in der Lage – trotz Gesundheitsgefahren. „Die Überwachung und Ahndung von Verstößen gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften obliegt (…) den Ländern“, heißt es. Versuche von baden-württembergischen Behörden haben gezeigt, dass manche Motorräder doppelt laut sind wie angegeben, wenn Tester die Prüfbedingungen praxisnah gestalten. Der Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer beklagt deshalb: „Wie auch beim Abgasskandal bleibt die Bundesregierung beim Motorradlärm untätig und verweist, wo es nur geht, auf die internationale Ebene.“ Das helfe aber Menschen an Raserstrecken oder in der Nähe von städtischen Kreuzungen nichts. Überhaupt sei das erst der Anfang: „Den eigentlichen Skandal, dass auch Motorradhersteller Abschalteinrichtungen verbauen und mit Zykluserkennungen bei den Lärmgrenzwerten tricksen, sitzt die Bundesregierung komplett aus.“

Da würden Gesetze produziert, deren Verstoß aber „ohne Konsequenzen in irgendeiner Weise“ bliebe, klagt Krischer. Das Prinzip sei stets: Der Bund mache das Gesetz, die Länder sollten es umsetzen und die Kommunen am Ende kontrollieren. „Das funktioniert überhaupt nicht, jede Ebene drückt sich.“ Deshalb, so Krischer, müsse in jedes Gesetz geschrieben werden, wer für die Umsetzung, die Kontrolle und die Ahndung von Verstößen zuständig sei. Hersteller von Fahrzeugen oder technischen Geräten müssten auch herangezogen werden, um eine korrekte Prüfung durch staatliche Stellen zu finanzieren. Da könne man für jedes verkaufte Produkt eine Gebühr verlangen, meint Krischer. In skandinavischen Ländern würde das so gehandhabt. Ohne Umsteuern gäbe es weiterhin den Dominoeffekt: „Alle machen beim Schummeln mit, sonst schneiden sie ja schlechter ab als andere.“

Günther Blessing, der Volkswagen-Kläger, fürchtet, dass er mit seinem dreckigen Passat bald nicht einmal mehr nach Stuttgart zur Verwandtschaft fahren könne. Dann, wenn Dieselfahrverbote auch dort in Kraft treten würden. Blessing hält sein Auto inzwischen für kaum mehr verkäuflich, schon gar nicht ohne Wertverlust. Und Softwareupdates? „Eine Unverschämtheit“, sagt er. Seine Frau bekommt statt des Diesels jetzt einen Benziner. Allerdings auch von Volkswagen, obwohl die Wolfsburger ihn so betrogen haben. Blessings sonst so klare Konsequenz – hier fällt sie einmal aus. „Sie liebt halt den Polo.“

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