Bei Verdi entfacht diese Strategie so viel Freude wie eine Backenzahn-Operation. „Der diffuse Begriff der Wertschöpfungskette taugt nicht zur Abgrenzung gewerkschaftlicher Zuständigkeiten. Er darf auch kein Freibrief sein, in fremden Revieren zu wildern“, wettert die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis.
Leidtragende des Bruderkampfes sind die Unternehmen. Bei Stute sind die Lohnkosten durch die rivalisierenden Tarifverträge um rund 4,5 Millionen Euro nach oben geschossen. „Dass sich zwei Gewerkschaften gegenseitig hochschaukeln, bringt uns in eine schwierige Lage. Wir können die gestiegenen Lohnkosten nicht auf die Preise überwälzen, da wir mit unseren Kunden langfristige Verträge haben“, sagt Manager Dieckhöfer. Er sieht durch das Vordringen der IG Metall die gesamte Branche unter Druck: „Wenn die IG Metall ernsthaft glaubt, in der Logistikbranche mit Metalltarifen agieren zu können, untergräbt das die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen – und stellt am Ende das gesamte Geschäftsmodell der Logistik infrage.“
Auch Verdi gibt sich gegenüber der IG Metall kompromisslos: Es könne „keine Lösung sein, auf Abwerbungen in bereits gewerkschaftlich organisierten Betrieben zu setzen, statt weiße Flecken im eigenen Bereich zu erschließen“, lässt Vizechefin Kocsis die Kollegen wissen. Wo Logistikleistungen überwiegen und nicht Montagearbeiten, sei „ganz klar Verdi für die gewerkschaftliche Vertretung der Beschäftigten zuständig. Das gilt auch für Stute.“
Mit wem Verdi im Clinch liegt
Verdi liegt aber nicht nur mit der IG Metall im Clinch, sondern auch mit der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Die nimmt derzeit in ansehnlicher Zahl Verdi-Überläufer des Stromnetzbetreibers Tennet auf. Es begann mit dem Austritt von über 100 Tennet-Beschäftigten, die mit Verdi unzufrieden waren. Verdi-Boss Frank Bsirske tobte. Seither seien „noch deutlich mehr Tennet-Beschäftigte zu uns gekommen“, heißt es bei der IG BCE, deren Gesamtmitgliederzahl 2014 erneut gesunken ist und die dringend Zuwachs benötigt.
Kleine Gewerkschaften mit großer Macht
Der „Verband der Verkehrsflugzeugführer und Flugingenieure in Deutschland“ setzt sich für die Interessen von rund 9300 Cockpit-Besatzungsmitgliedern aus allen deutschen Airlines und von Verkehrshubschrauberführern ein.
Zu den etwa 3900 Mitgliedern gehören Lotsen in den Towern, bei der militärischen Flugsicherung und bei den Vorfeldkontrollen.
Nach eigenen Angaben ist sie die einzige deutsche Gewerkschaft, die sich ausschließlich für das fliegende Kabinenpersonal einsetzt. Die Ufo hat gut 10 000 Mitglieder.
Die erst Ende 2012 gegründete Gruppierung gilt als neuer Machtfaktor im Lufthansa-Konzern. Nach eigenen Angaben vertritt sie alle Beschäftigten von Fluggesellschaften, Airportbetreibergesellschaften und Dienstleistungsunternehmen mit Bezug zur Luftfahrtbranche.
Sie hat rund 34.000 Mitglieder und ist Tarifpartner der Deutschen Bahn und mehrerer Privatbahnen. Nach eigenen Angaben organisiert sie mehr als 80 Prozent der Lokomotivführer und zahlreiche Zugbegleiter.
Die nach eigenen Angaben einzige tariffähige Ärztegewerkschaft in Deutschland kämpft unter anderem für bessere Arbeitsbedingungen ihrer rund 115 000 Mitglieder in Kliniken.
Hinter dem Streit um Tennet steckt die ungelöste Frage, welche Gewerkschaft künftig im Energiesektor das Sagen hat. Die Strombranche ist ein gewerkschaftspolitischer Multikulti-Kosmos, in dem sich gleich drei Bünde drängeln. Trotzdem ließ sich ein Tarifdschungel à la Bahn bisher durch Tarifgemeinschaften und Absprachen über Zuständigkeiten verhindern. Die wachsende Rivalität um Mitglieder ändert nun die Lage: Wohl auch wegen Tennet hat Verdi die langjährige Tarifgemeinschaft mit der IG BCE beim Stromversorger RWE auf Eis gelegt, der Konzern muss nun mit beiden Gewerkschaften getrennt verhandeln. Auch bei Vattenfall, wo Ende Februar der Tarifvertrag auslief, gehen die Gewerkschaften getrennte Wege – was die Verhandlungen für das Unternehmen komplizierter macht.