Die wahre Schuldenlast Deutschlands große Lüge

Die amtliche Schuldenlast Deutschlands ist auf 2.000.000.000.000 Euro gewachsen. Wer ehrlich ist, muss gewaltige Verpflichtungen der Sozialkassen hinzu addieren. Keine gute Basis, um heil durch die Finanzkrise zu kommen.

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Den ernsthaften Willen, Schulden konsequent abzubauen, kann man in Deutschland nicht erkennen. Quelle: handelsblatt.com

Eigentlich sind Deutschlands Finanzpolitiker zu beneiden. In kaum einem Land sind Finanzminister so beliebt und die Bürger so sparsam wie hierzulande. Das gilt für das Privatleben, wo der Deutsche regelmäßig mehr als ein Zehntel seines Einkommens auf die hohe Kante legt, während andere Völker auf Pump prassen. Das gilt aber auch für das Gemeinwesen, wo sich regelmäßig eine Mehrheit der Bevölkerung dafür ausspricht, lieber die Staatsfinanzen zu sanieren, als die Steuern zu senken.

Im ZDF-Politbarometer etwa sprach sich im Juli eine Mehrheit von 62 Prozent dafür aus, die für 2011 zu erwartenden Steuermehreinnahmen zum Schuldenabbau zu nutzen, 28 Prozent wollten Steuersenkungen und nur acht Prozent höhere Staatsausgaben.

Und dennoch fehlte einer Regierung nach der anderen der Mut, eine nachhaltige Wende in den Staatsfinanzen einzuleiten und tatsächlich Schulden abzubauen. Was sie unter großem Getöse als „harte Sparpolitik“ durchsetzten, war bisher selten anderes als eine schlichte Reduzierung der Haushaltsdefizite. Sprich: Es wurden weniger neue Schulden gemacht – der Schuldenberg wuchs aber weiter. Die nüchternen Zahlen dazu: Seit Ende 2010 hat Deutschland mehr als zwei Billionen Euro Schulden.

Allein in der bisherigen Amtszeit Angela Merkels vergrößerte sich dieser Berg um 500 Milliarden Euro. Die Kanzlerin steht damit für so viele neue Schulden wie alle Bundeskanzler in mehr als vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland zusammen.

Setzt man diesen Berg ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), dann entspricht das einer Schuldenquote von 83,2 Prozent. Das sind 18 Prozentpunkte mehr als vor vier Jahren. Damit nähert sich die deutsche Staatsschuld bedrohlich der Marke, die die US-Topökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in ihren bahnbrechenden Langzeitstudien als die Schwelle identifiziert haben, von der an die Staatsverschuldung die Wachstumsraten einer Volkswirtschaft drückt: 90 Prozent des BIP. Doch selbst die gewaltige Summe von zwei Billionen Euro ist im Grunde nur die Spitze des Eisbergs. Die wahre Staatsverschuldung ist weit höher. Die amtlichen Statistiken erzählen nur einen Teil der Wahrheit.

Denn die deutschen Sozialkassen sind riesige Verpflichtungen eingegangen, die in der Zukunft zu hohen Ausgaben führen werden, ohne dass dafür Kapital angespart wurde. Auf mehr als 4,8 Billionen Euro oder 185 Prozent des BIP kalkuliert der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen alle durch das heutige Steuer- und Abgabenniveau nicht gedeckten Leistungsversprechen des Staates, insbesondere der Sozialversicherungen.

Vor allem die Finanzierung der Pflegeversicherung drohe angesichts der ungünstigen demografischen Entwicklung die aktiv Beschäftigten zu überfordern, warnt er. Diese sogenannte implizite Staatsverschuldung kommt zur amtlichen, also expliziten Schuldenlast hinzu. Zusammen ergeben sich dann fast sieben Billionen Euro, die Raffelhüschen „Nachhaltigkeitslücke“ nennt.

Sinn: Ein Kurswechsel wird für Politiker immer schwerer

Das klingt harmlos, bedeutet aber: Diese sieben Billionen sind ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft, ausgestellt von uns allen und einzulösen von unseren Kindern und Enkeln. Doch auch damit ist es nicht genug. Obendrauf kommen noch die zahlreichen Verpflichtungen, die wir zur Bekämpfung der Finanzkrise eingegangen sind und noch eingehen.

Der Chef des Münchener Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, beziffert das Risiko, das wir mit offenen und versteckten Hilfen für die wankenden Euro-Peripheriestaaten eingegangen sind, auf 379 Milliarden Euro. Gingen Euro-Staaten in Serie pleite, wäre das der Betrag, mit dem Deutschland zur Kasse gebeten würde – wenn bis dahin das Volumen des Rettungsschirms nicht weiter aufgestockt wurde.

Das entspricht immerhin zwei Dritteln der gesamten Steuereinnahmen eines Jahres. 100 Milliarden Euro neue Schulden kommen in diesen Ländern Jahr für Jahr hinzu, warnt Sinn: „Es wird für die Politiker immer schwerer, einen Kurswechsel durchzusetzen.“ Das gilt auch für die deutschen Staatsfinanzen. Ein Bundeskanzler nach dem anderen hat erst Sparsamkeit gelobt und dann Schulden gemacht.

In den fünfziger und sechziger Jahren war das noch recht harmlos. Schließlich verbot das Grundgesetz doch generell Staatsschulden. „Im Wege des Kredites dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken und nur auf Grund eines Bundesgesetzes beschafft werden“, heißt es dort in Artikel 115. Doch Ende der sechziger Jahre wurde neu definiert, was als außerordentlich zu gelten hatte.

Der Staat wollte die Konjunktur steuern und nahm sich die Freiheit, bei einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ordentlich Kredite aufnehmen zu dürfen. Auch in guten Zeiten durfte er bis zur Höhe seiner Bruttoinvestitionen Schulden machen. Die Folge: Seit 1970 verdreißigfachten sich die deutschen Staatsschulden. So wie Deutschland gingen viele Staaten mit einem hohen Schuldenberg in die Finanzkrise hinein und kamen mit einem noch höheren wieder heraus.

Schon wenige Wochen nach der spektakulären Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers warnte der jüngst zurückgetretene Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, in einem Handelsblatt-Gastkommentar, am Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise könnte eine Krise der öffentlichen Finanzen stehen: „Viele Staaten Europas haben in besseren konjunkturellen Phasen unzureichend Vorsorge getroffen. Die Zahl der Länder mit einem exzessiven Defizit dürfte steigen.“ Er sollte recht behalten. 

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