Die Zukunft des Liberalismus

Sechs Thesen zum Tod der FDP - und zur Rettung des Liberalismus 

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Unternehmerische Zwänge

Denn Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet.

„Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) - doch nie zuvor waren wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt. Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet - und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu Zerstreuung, konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Der klassische Liberalismus hat aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung, Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war der Liberalismus ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.

4. Ein neuer Eigentums- und Freiheitsbegriff 

Der Eigentumsbegriff der Liberalen zum Beispiel basiert auf einer groben Verkürzung. Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John Locke (1632 - 1704) zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt, auch sein Eigen nennen darf.

Was die Vulgärliberalen dabei gerne vergessen, ist Lockes Nachsatz: Solange “ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt”. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut.

Er erzählt - im 17. Jahrhundert - noch nichts von einer lohnabhängigen Arbeiterklasse, die - im 19. Jahrhundert - kein Eigentum am Ertrag ihrer Arbeit haben und von schottischen Moralphilosophen schulterzuckend bedauert wird, bei der "great lottery of life" leider eine Niete gezogen zu haben.

Auch rechtfertigt Locke mit der arbeitenden Erstaneignung und persönlichen Inbesitznahme nicht die möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht Locke - 160 Jahre bevor die “frontier” in der Neuen Welt den Mississippi erreicht - noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Von Ländereien, die im Überfluss vorhanden sind und nur darauf warten, vom Menschen untertan gemacht zu werden.

Davon kann heute erkennbar keine Rede mehr sein - und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht einmal ansatzweise durchblicken lassen, dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort weiß. 

Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte dringend eine Auffrischung. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1806 - 1873), der - ganz ähnlich wie Locke - die "Schädigung anderer" zur Grenze der Freiheit erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen, diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit zu treiben: Eine neues Kohlekraftwerk in der Kamschatka zum Beispiel, so lässt sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten.

Viele FDP-Liberale wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und heute tun zu können, was man will: Schnauze, ihr Besserwisser und Bevormundungsgrünen - mein Porsche gehört mir!

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