Die Zukunft des Liberalismus

Sechs Thesen zum Tod der FDP - und zur Rettung des Liberalismus 

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Wann Freiheit schadet

Der anspruchsvollen und gleichsam öffentlichen Aufgabe aber, eine qualitative Bestimmung von Freiheit vorzunehmen und sich von Fall zu Fall die Frage zu stellen: Welche Freiheiten schaden? Welche wollen wir dennoch dulden? Welche sollen unantastbar sein? - dieser Aufgabe weichen die FDP-Liberalen konsequent aus - mit der Folge, dass der öffentliche Diskurs über derlei Fragen an der Partei vorbei stattfindet.

Grund dafür ist nicht heroische Prinzipienfestigkeit, wie viele Liberale noch immer von sich annehmen, sondern reine Denkfaulheit: Liberale missverstehen Mills "individuelle" Freiheit immer noch als Hier-und-Jetzt-Freibrief für Ichlinge - und nicht als eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben, als Fähigkeit, die wir mit Blick auf andere zu verwirklichen haben.

Freiheit im Sinne von Mill aber ist: Wahlfreiheit. Sie besteht nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen eine größere Bedeutung beimessen als anderen. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, die ich ergreifen kann oder nicht, sondern die Fähigkeit, meiner Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn beizumischen.  

5. Wider die Unfreiheit!

Was Liberale gern vergessen: Dass die Erschließung von Räumen der Freiheit ihrer Nutzung vorangeht. Das vielleicht berühmteste historische Beispiel dafür ist die Geburt der römischen Republik aus dem Verbrechen: Nachdem Sextus Tarquinius, der Sohn des Gewaltherrschers, die tugendhafte Lucretia vergewaltigt hat, lehnt sich das römische Volk gegen Willkür, Tyrannei und Machtmissbrauch auf, um sich hinfort nur noch selbst auferlegten Regeln zu unterwerfen. Liberalismus, so verstanden, bezeichnet keine Idee der Freiheit, sondern eine Impulsbewegung, die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.

Der Vormarsch der Islamisten in Syrien und im Irak, die fortgesetzte Missachtung der Menschenrechte in China, die russische Offensive gegen die Ukraine - es gibt gerade in diesen Wochen unendlich viele Beispiele, die verdeutlichen, dass es sich lohnen würde, den Liberalismus von einer universal geltenden Definition dessen zu bestimmen, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines anderen zu stehen.

Die amerikanische Politologin Judith Shklar hat diesen Gedanken bereits 1989 auf den Nenner eines "Liberalismus der permanenten Minderheiten" gebracht. Er besteht darauf, den Freiheitsgrad einer Gesellschaft von den Rändern her zu prüfen, "die Stimmen der Opfer immer zuerst" zu hören, sich laufend der Empfindungen der weniger Erfolgreichen zu versichern. Es ist ein Liberalismus, der seine Wurzeln in den grausamen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts hat und dessen Keimzelle der Toleranzbegriff von Michel de Montaigne, nicht der Eigentumsbegriff von John Locke ist.

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