WirtschaftsWoche: Herr Berg, zum Amtsantritt vor einem Jahr hat die Ampel-Koalition einen digitalen Aufbruch versprochen. Ist die digitale Zeitenwende nun endlich in der Fax-Republik angekommen?
Achim Berg: Von einer Zeitenwende in der Digitalpolitik können wir nun wirklich nicht sprechen, denn der angekündigte digitale Aufbruch hat bisher nicht stattgefunden.
Was ist im ersten Ampel-Jahr schief gegangen?
Es gibt auch gute Nachrichten. Die Bundesregierung hat im August eine Digitalstrategie veröffentlicht, in der viele richtige Dinge drin stehen – oft scheitern gute Ideen aber in der Umsetzung.
Haben Sie ein Beispiel für gute Ideen und schlechte Umsetzung?
Ein Beispiel sind die digitalen Identitäten. Die brauchen Bürgerinnen und Bürger, um Verwaltungsdienstleistungen schnell und unkompliziert nutzen zu können. Das ist lange bekannt, seit 2010 gibt es einen elektronischen Personalausweis mit einer solchen eID, aber die Verwaltungen beginnen jetzt erst damit, einzelne Dienste für die elektronische Signatur zu öffnen wie beispielsweise den Bafög-Antrag.
Zur Person
Achim Berg ist Präsident des IT-Branchenverbands Bitkom, der mehr als 2000 Unternehmen der digitalen Wirtschaft vertritt, unter ihnen 1000 Mittelständler, 500 Start-ups und nahezu alle Global Player. Berg ist Diplom-Informatiker, er war unter anderem bei der Telekom Vorstand für Vertrieb und Service, Vorsitzender der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland sowie Vorstandsvorsitzender der Arvato AG und Vorstandsmitglied von Bertelsmann. Heute ist er Operating Partner beim global operierenden Wachstumsinvestor General Atlantic.
Schon die große Koalition ist an dem Vorhaben gescheitert. Warum geht es nun erneut nicht voran?
Ich glaube langsam, dass unser hoch komplexer Staat – mit dem Bund selbst, seinen 961 obersten Behörden, 16 Bundesländern und 11.000 Kommunen – kaum in der Lage ist, sich digital zu erneuern. Wenn wir etwas machen, dann wollen wir auf den Peak of Perfection. Und weil wir da nicht hinkommen, lassen wir es dann ganz. Aber wir müssen auch mal Beta können.
Was heißt das konkret?
Deutschland tut sich unheimlich schwer damit, Dinge auszuprobieren. Wir sind wirklich der Weltmeister in politischer Langsamkeit. Die elektronische Gesundheitskarte, digitale Patientenakte und das e-Rezept sind dafür Beispiele. Für die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte brauchten wir 16 Jahre. Die hatte dann aber nur ein Foto und ein paar Stammdaten.
Keine gute Voraussetzung für die elektronische Patientenakte...
...an der elektronischen Patientenakte und dem e-Rezept doktern wir weiter rum. In anderen Ländern ist das längst Standard. In Deutschland haben wir an vielen Stellen quasi eine institutionalisierte Verhinderungsmacht, hinzu kommt oft Ambitionslosigkeit. Das zeigt ja auch das Desaster um die Grundsteuererklärung.
Finanzminister Christian Lindner hat die Frist kürzlich auf Ende Januar 2023 verlängert, ursprünglich hatten bis Ende Oktober alle 36 Millionen Grundstücksbesitzer ihre Daten abgeben sollen. Sind Sie zuversichtlich, dass es jetzt klappt?
Das Verfahren um die Grundsteuererklärung ist eine Unverschämtheit. Den Ämtern liegen alle notwenigen Daten vor, aber weil sie bisher mit der digitalen Registerführung gescheitert sind, wird das Sammeln der Daten nun auf die Bürger abgewälzt – und dann brechen auch noch die Webseiten dafür zusammen. Da kommt man sich doch veräppelt vor. Ich glaube nicht, dass eine Fristverlängerung alleine da reicht.
Dabei sollte ein Mann endlich alles anders machen: Der FDP-Politiker Volker Wissing, Deutschlands erster Digitalminister. Bringt das Amt tatsächlich nun den großen Unterschied?
Wir hatten gehofft, dass mit dem Digitalministerium auch ein paar Kompetenzbündelungen vorgenommen werden. Das ist leider nicht mit der nötigen Konsequenz passiert. Viele Ministerien sind für einzelne Aspekte der Digitalisierung zuständig, und dann wurde auch noch das angekündigte Digitalbudget vorerst gestrichen, es soll frühestens 2024 kommen. Jetzt müssen alle Ministerien bei digitalen Themen an einem Strang ziehen.
Was muss die Ampel-Koalition anpacken, damit es 2023 besser wird mit dem digitalen Aufbruchsversprechen?
Die Regierung sollte sich auf drei Dinge konzentrieren. Wir brauchen einen funktionierenden digitalen Staat, denn die Geschwindigkeit reicht bisher nicht aus, um unsere Ziele zu erreichen. Genehmigungsverfahren sind fürchterlich kompliziert und nicht digitalisiert, diese ganze Bürokratie erschwert Innovation und Fortschritt, nicht nur Start-ups können ein Lied davon singen.
Was die Digitalisierung in Deutschland ausbremst oder vorantreibt
In keinem anderen Bereich fallen die Defizite bei der Digitalisierung in Deutschland so so sehr ins Auge wie in der Verwaltung. In den meisten Amtsstuben gibt es keine rein digitalen Arbeitsabläufe. So kämpfen derzeit deutschlandweit die Studentenwerke mit der Digitalisierung der BAföG-Anträge und die Studierenden müssen lange auf ihr Geld warten. Sie konnten zwar den BAföG-Antrag online einreichen. Die BAföG-Ämter müssen diese zur Bearbeitung dann aber wieder ausdrucken. „Das ist Digitalisierung ad absurdum!“, sagte der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks, Matthias Anbuhl „tagesschau.de“.
Versprochen hatte die Koalition eine unkomplizierte und schnelle digitale Verwaltung. Der Internet-Verband Eco beklagt dagegen, dass die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen und der Bürokratieabbau nur schleppend vorankomme. Auch beim Aufbau einer Cloud der öffentlichen Verwaltung mit offenen Schnittstellen sowie strengen Sicherheits- und Transparenzvorgaben ist kaum Fortschritt in Sicht.
Der Ausbau der Breitband-Infrastruktur ist in den vergangenen Jahren besser vorangekommen als von vielen gedacht. Zwar erleben viele Menschen, die mit einer DSL-Leitung oder Kabel-TV-Leitung online sind, insbesondere zu den Hauptnutzungszeiten Engpässe und Ruckler bei ihren Videostreams, auch weil es in den meisten Fällen an einer Glasfaserverbindung bis in die Wohnung fehlt. Dafür sieht der Ausbau der ultraschnellen fünften Mobilfunkgeneration (5G) recht gut aus. Nach Schätzungen des Mobilfunkausrüsters Ericsson befinden sich Deutschland und andere westeuropäische Länder bei 5G auf der Überholspur und werden in wenigen Jahren international zusammen mit den USA an der Spitze liegen.
Zur besseren Abwehr von Cyberangriffen hatte sich die neue Bundesregierung ein strammes Programm vorgenommen. So sollen Sicherheitslücken künftig nicht unter den Tisch gekehrt oder heimlich von Geheimdiensten ausgenutzt werden. Die meisten Schlagzeilen erzeugte die Bundesregierung aber durch die erzwungene Ablösung des Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, auf der Basis von Vorwürfen des ZDF-Magazins Royale. Acht Wochen nach dem Rauswurf ist die Spitze des BSI weiter unbesetzt, obwohl seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine auch der deutsche Cyberraum immer stärker bedroht wird.
In Dänemark können sich Bürgerinnen und Bürger einfach und sicher bei Behörden, in der Arztpraxis oder bei der Führerscheinkontrolle digital ausweisen. „Dort nutzen 90 Prozent der Bevölkerung beinahe täglich die digitale ID - und das funktioniert“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. In der Bundesregierung ist die Erkenntnis zwar auch angekommen, dass viele Digitalprojekte ohne eine funktionierende digitale eID nicht zustande kommen können. Eine sichere digitale Identität ist deshalb nicht nur ein Projekt unter vielen, sondern ein „Leuchtturm“ der Digitalstrategie. An der Umsetzung hakt es aber noch.
Die Ampel-Koalition hatte sich vor einem Jahr gegen die Gründung eines mächtigen Digitalministeriums entschieden. So sind mehrere Ressorts für das Digitale zuständig: Neben Digital- und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) sind das vor allem Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung hat auch Justizminister Marco Buschmann (FDP) ein Wörtchen mitzureden. Einen „digitalen Wumms“ hat das Kabinett mit dieser personellen Aufstellung bislang nicht erreicht, auch weil Kanzler Olaf Scholz (SPD) zu den Digital-Themen kaum Impulse gibt. Dazu kommt, dass es kein eigenes Budget für ambitionierte Digital-Projekte gibt. Die benötigten Mittel müssen aus den Etats der Fachministerien finanziert werden.
Im Koalitionsvertrag hat das Ampel-Bündnis versprochen, für öffentliche IT-Projekte offene Standards festzuschreiben. „Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source beauftragt.“ Dabei sind Programmcodes offen einsehbar und können durch Nutzer kontrolliert und verbessert werden. Oft sind damit freie Lizenzmodelle verbunden. Das wichtigste Open-Source-Projekt ist das Betriebssytem Linux, das auch Grundlage für das Android-Betriebssystem von Google ist.
Bereits heute hängen große Teile der Infrastruktur im Netz von quellenoffenen und freien Projekten ab. In der Freien Software-Szene wurde mit Dank und Anerkennung registriert, dass das Wirtschaftsministerium in diesem Herbst sieben wichtige Open-Source-Projekte finanziell gefördert hat, um Sicherheit und Datenschutz im Internet zu stärken.
Was ist der zweite Punkt?
Wir müssen Daten besser nutzbar machen. Zwar plant die Regierung ein Dateninstitut, um Daten schneller und breiter verfügbar zu machen, aber es gibt erst die Eckpunkte der Gründungskommission. Wir verlieren auch hier zu viel Zeit.
Und die dritte Baustelle?
Die größte Gefahr für unseren Wohlstand sind fehlende Fachkräfte. Wenn wir das Thema nicht in den Griff kriegen, dann droht uns ein langanhaltender wirtschaftlicher Niedergang, bestenfalls Stagnation. Wir müssen das Arbeitszeitgesetz reformieren, wir müssen die Attraktivität des Standorts erhöhen, die Zuwanderungsregeln müssen angepasst werden.
Wie trifft der Fachkräftemangel insbesondere die digitale Wirtschaft?
Fast 140.000 IT-Stellen sind in Deutschland unbesetzt. Wir müssen dringend die digitalen Kompetenzen in der Bildungskette stärken. Wir haben aber gerade in der Informatik extrem hohe Abbrecherquoten, das kann so nicht weiter gehen, wenn sich Deutschland erfolgreich digitalisieren und innovationstark bleiben will. Für IT-Fachkräfte aus dem Ausland werden demnächst die Vorgaben erleichtert. Deutschkenntnisse und formale Abschlüsse werden durch ein Punktesystem ersetzt, das haben wir seit Jahren gefordert, jetzt kommt es, die Richtung stimmt also.
Ein neues Gesetz allein lockt aber noch keine Fachkräfte an...
...genau, das heißt nicht, dass uns jetzt die besten IT-Expertinnen und -Experten die Bude einrennen. Wir müssen diese Fachkräfte viel stärker im Ausland aktiv anwerben. Wir brauchen einen roten Teppich für IT-Spitzenkräfte aus der ganzen Welt, das würde dem digitalen Deutschland massiv helfen.
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