Digitaljahr 2016 Digitalwirtschaft beklagt „massive Internet-Skepsis“

Ob Fake News oder Cyberanagriffe: Die dunklen Seiten des Internets fordern die Politik heraus. Einige Maßnahmen wurden schon ergriffen. Doch sind damit auch erhebliche Nachteile für die Wirtschaft verbunden.

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Die Digitalisierung bietet viele Chancen, schafft aber auch neue Feindbilder. Entsprechend kritisch fällt die netzpolitische Jahresbilanz der Internetwirtschaft aus. Quelle: obs

Berlin Vor zwei Jahren ist die Große Koalition angetreten, um sich mit der von ihr selbst ersonnenen Digitalen Agenda den großen netzpolitischen Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Der Digitalverband Bitkom hatte im Juli errechnet, dass von 121 Punkten des Programms bereits 66 umgesetzt und weitere 46 in Arbeit seien. Die Arbeit sei auf einem guten Weg, lautete damals die Zwischenbilanz des Verbands.

Und auch der Digital-Experte der Unions-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek (CDU), zog damals ein positives Fazit. Zu Beginn der Legislaturperiode habe die Bundesregierung erstmals digitalpolitische Leitlinien und Grundsätze beschlossen. „Nach zwei Jahren stellen wir fest: Das Hausaufgabenheft der Bundesregierung ist fast abgearbeitet“, erklärte der CDU-Politiker seinerzeit. „Mit vielen konkreten Maßnahmen sind die Leitlinien erfolgreich unterfüttert worden.“

Ganz so euphorisch sieht der Eco-Verband der Internetwirtschaft, mit mehr als 950 Mitgliedsunternehmen der größte Verband der Internetwirtschaft in Europa, die Sache aber nicht. In seinem netzpolitischen Jahresrückblick, der dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, bewertet der Verband die aus einer Sicht fünf wichtigsten digitalpolitischen Entwicklungen und Entscheidungen. Dabei ergebe sich insgesamt ein „ambivalentes Gesamtbild aus restriktiven Ansätzen“ im Bereich Cybersicherheit und „zukunftsweisenden Vorstößen“ beispielsweise im Bereich digitale Bildung und Arbeiten 4.0.

Überlagert werden die Entwicklungen allerdings, wie der Verbandsvizechef Oliver Süme konstatiert, von einer „großen Verunsicherung“ in Gesellschaft und Politik, „die sich leider allzu häufig in einer massiven Internet-Skepsis manifestiert, der die Überzeugung zugrunde liegt, das Internet sei in gewisser Weise der größte Unsicherheitsfaktor unserer Zeit“. Dies habe auch damit zu tun, dass netzpolitische Debatten aktuell stark von innenpolitischen Erwägungen bestimmt würden, sagte Süme dem Handelsblatt. „In der Politik mündet diese Verunsicherung in einer Tendenz zu immer drastischeren Regulierungs- und Überwachungsbestrebungen.“

Kritisch sieht der Verband etwa die Vorratsdatenspeicherung und die damit verbundenen Auflagen für die Unternehmen. Der im Oktober 2016 veröffentlichte Anforderungskatalog der Bundesnetzagentur stelle „unrealistisch hohe Anforderungen an die erforderlichen Maßnahmen zum Datenschutz und zur Datensicherheit“, heißt es in dem Jahresrückblick-Papier. „Die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung wird damit für Unternehmen voraussichtlich deutlich teurer und aufwändiger als bisher erwartet. Für kleinere und mittlere Betriebe könnten die vorgesehenen Regeln existenzgefährdend sein.“


Internetkonzerne sind „keine staatlichen Erfüllungsorgane“

Auch an dem im Oktober 2016 beschlossenen BND-Gesetz lässt der Verband kein gutes Haar. Zumal dem Bundesnachrichtendienst damit „faktisch eine Ermächtigungsgrundlage für eine massenhafte Überwachung im In- und Ausland erteilt“ werde. Die im Nachhinein vorgesehene Kontrolle durch ein neues, unabhängiges Gremium gehe „vollständig ins Leere, da sie weder Umfang noch konkrete Maßnahmen der Erfassung betrifft“.

Im Hinblick auf neue Anti-Terror-Maßnahmen lobt der Verband die Bundesregierung für ihr im Juni beschlossenes Paket. So wird etwa begrüßt, dass zumindest eine „problematische“ Regelung nicht Bestandteil der Gesetzesinitiative geworden sei: die Pläne, Internetprovider als private Helfer im Kampf gegen Terrorismus einzusetzen.

Anders bewertet der Digitalverband die auf europäischer Ebene als Reaktion auf die Anschläge von Paris im November 2015 vorangetriebene Anti-Terror-Richtlinie. Mitgliedstaaten soll danach ermöglicht werden, unter bestimmten Voraussetzungen Internetseiten zu sperren. Konkret räumt ihnen die Richtlinie das Recht ein, Maßnahmen zu ergreifen, um illegale Inhalte, die „öffentlich zu terroristischen Straftaten anstiften“, zeitnah zu entfernen – oder, wenn das nicht möglich ist, den Zugang zu solchen Inhalten zu blockieren.

Eco hält den Aufbau einer Infrastruktur zur Sperrung und Filterung von Internetinhalten für kontraproduktiv für die Bekämpfung illegaler Inhalte und deren Löschung. „Stattdessen sollten die europaweite und internationale Kooperation der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden gefördert und die Löschung von strafbaren Inhalten vorangetrieben werden“, schlägt der Verband vor. Der Einwand kommt zum richtigen  Zeitpunkt, denn derzeit wird die Richtlinie im Trilog zwischen EU-Parlament, -Kommission und Europäischem Rat ausverhandelt.

In der Debatte um Hasskommentare in den sozialen Medien warnt der Eco vor überzogenen Maßnahmen. Die Internetkonzerne seien „keine staatlichen Erfüllungsorgane“, heißt es in dem Bilanzpapier. Die Entscheidung darüber, welche Inhalte noch in den Bereich der Meinungsfreiheit fallen und welche strafrechtlich relevant sind, müsse im Zweifel bei Gerichten liegen. „Alles andere würde zu einer unkontrollierbaren Zensurinfrastruktur im Netz führen und damit eine Gefahr für die Meinungsfreiheit im Internet darstellen.“

Die Experten stoßen sich vor allem daran, dass von den Plattformanbietern eine Verpflichtung gefordert werde, ihre Seiten regelmäßig auf unerwünschte Inhalte zu scannen und diese eigenständig zu entfernen. „Aus Sicht der Internetwirtschaft ist dieser Vorschlag zum einen problematisch, da er suggeriert, Social Media Anbieter seien zu einer Zusammenarbeit mit Ermittlungsbehörden nicht bereit und müssten deshalb per Gesetz gezwungen werden.“ Tatsächlich arbeiteten Anbieter jedoch an verschiedenen Stellen und im Rahmen verschiedener Kooperationsinitiativen erfolgreich mit Politik und Ermittlungsbehörden zusammen. Als Beispiel nannte der Verband die im vergangenen Jahr mit Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) gegründete Task Force gegen Hassbotschaften.


Lob für Arbeitsministerin Nahles

Viel Lob zollt der Internetverband der Politik hingegen für das im Juni 2016 vom Bundestag verabschiedete WLAN-Gesetz, womit das Ende der so genannten Störerhaftung besiegelt wurde. Das heißt: Vermittelt ein WLAN-Anbieter Informationen nur, entsteht für den Urheberrechtsinhaber kein Anspruch auf Schadensersatz, wenn eine Urheberrechtsverletzung durch Dritte im WLAN festgestellt wird. „Aus Sicht von Eco ist der Weg damit frei für öffentliche Hotspots in Deutschland“, resümiert der Internetverband.

Auch bei den Themen digitale Bildung und Arbeit sieht der Verband Fortschritte. So habe die Bundesregierung den Handlungsbedarf im Bereich digitaler Bildung erkannt und mit dem im Oktober 2016 vorgestellten „Digitalpakt #D“ ein Förderprogramm für die Verbesserung der digitalen Infrastruktur an Schulen vorgelegt. Auch die Kultusministerkonferenz habe kürzlich eine erste Strategie zur „Bildung in der digitalen Welt“ vorgelegt, die Handlungsfelder für Länder, Bund, Kommunen und Schulträger sowie Schulen beschreibt.

„Aus Sicht der Internetwirtschaft ist das ein erster wichtiger Schritt, gleichwohl ist es mit Strategien und der Schaffung technischer Grundlagen alleine nicht getan.“ So müssten auch die Lehrer befähigt werden, mit didaktischen Konzepten Kinder und Jugendliche an diese Technologien heranzuführen. Daher seien die Bundesländer jetzt in der Pflicht. „Sie müssen rasch nachziehen und konkrete Handlungskonzepte vorlegen, wie die Vermittlung von IT- und Medienkompetenzen effektiv in den Unterricht integriert werden kann.“

Bewegung erkennt der Verband auch beim Thema Zukunft der Arbeit. Durch die zunehmende Vernetzung und Digitalisierung von Arbeitsprozessen werde sich die Arbeitswelt in den nächsten 20 Jahren „fundamental“ verändern, sind die Experten überzeugt. Mit diesem Wandel seien aber „mehr Chancen verbunden als Bedrohungen“. Vor diesem Hintergrund lobt der Verband die zuständige Bundesministerin Andrea Nahles (SPD). Sie habe diese Chancen erkannt und setze in ihrem im Oktober 2016 vorgestellten Weißbuch Arbeiten 4.0 mit den Themen Weiterbildung und Anpassungen im Arbeitsrecht „zwei richtige Schwerpunkte“.

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