Direkte Demokratie Deutsche wollen per Mausklick bei Großprojekten mitreden

Stärkere Einbindung der Bundesbürger bei großen Bauprojekten – dank digitaler Beteiligungsformate wäre dies sofort möglich.

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Auf dem Höhepunkt der Proteste 2010/11 zogen Zehntausende gegen das Bahn-Großprojekt Stuttgart 21 auf die Straße. Quelle: dpa

Berlin Auf den ersten Blick klingt es nicht schlecht, was sich Union und SPD vorgenommen haben. Sie wollen die „Demokratie beleben“, kündigen sie im Koalitionsvertrag an. Doch was dann kommt, ist ernüchternd. Denn die künftigen Partner einer Großen Koalition haben keinerlei Vorstellung davon, wie sie ihr hehres Versprechen einlösen wollen.

Eine Expertenkommission soll es richten. Ein solches Gremium soll Vorschläge erarbeiten, „ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“.

Mit solchen vagen Aussagen können Bürgerrechtler wenig anfangen. „Was uns stört, ist das ob. Das haben wir doch längst hinter uns“, kritisiert etwa der Verein „Mehr Demokratie“ die GroKo-Ankündigung. „Die direkte Demokratie gibt es in allen Bundesländern, was gibt es da noch zu zögern.“

Hinzu kommt, dass viele Deutsche offenbar generell ein großes Bedürfnis haben, bei politischen Entscheidungen mitmischen zu dürfen. Und zwar auf einfache Art und Weise – am liebsten per Mausklick vom heimischen Computer aus. Das zeigt eine Umfrage der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC), die dem Handelsblatt vorliegt. Danach geben 57 Prozent der 1042 befragten Bundesbürger an, sie würden Online-Beteiligungen in der Politik positiv gegenüber stehen und sich mehr solche Formate wünschen.

Dass es einen Bedarf an einer stärkeren Bürgereinbindung gibt, hat auch schon Heiner Geißler erkannt, als der frühere CDU-Generalsekretär im Konflikt um das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 vermittelte. Kaum ein Bauprojekt in Deutschland hat so massiven Widerstand ausgelöst wie dieses. Geldverschwendung und gefährlich für die Umwelt, so die Kritik der Gegner. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2010/11 zogen Zehntausende auf die Straße.

Geißlers Schlichterspruch ebnete schließlich den Weg zur Umsetzung des Bauvorhabens. Er ergriff aber auch Partei für die Kritiker, indem er mehr unmittelbare Demokratie einforderte. „Sicher kann das Schweizer Modell nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden“, sagte er seinerzeit. „Aber wir sollten, um Entwicklungen wie bei Stuttgart 21 in Zukunft zu verhindern, das Beteiligungsverfahren der Schweiz übernehmen, zumindest für Großprojekte.“

In der Schweiz kann das Volk häufig bei nationalen politischen Fragen direkt entscheiden. In Deutschland hingegen sieht das Grundgesetz keine bundesweiten Volksentscheide vor. Eine Ausnahme nennt das Grundgesetz in Artikel 29 für eine Neugliederung des Bundesgebietes, jedoch nur für die „betroffenen Länder“, aus deren Gebieten ein neues oder neu umgrenztes Land entstehen soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Republik legten die Väter und Mütter des Grundgesetzes das neue politische System bewusst als repräsentative Demokratie an.

In den Bundesländern sind die Instrumente direkter Demokratie dagegen auf Landes- und kommunaler Ebene vorgesehen. Per Volksentscheid, dem das Volksbegehren vorausgeht, können die wahlberechtigten Bürger verlangen, ein Landesgesetz oder die Landesverfassung zu ändern oder ein neues Gesetz einzuführen. In einigen Ländern gibt es zudem die Volksinitiative, auch Bürgerantrag oder Einwohnerantrag genannt. Damit wird der Landtag aufgefordert, sich mit einem bestimmten Thema zu befassen.

Und es gibt dank der Digitalisierung inzwischen auch die Möglichkeit, online an Beteiligungsverfahren teilzunehmen. Die Vorteile liegen auf der Hand. „Neue Zielgruppen können erreicht, Prozesse beschleunigt, Meinungstendenzen einfacher erfasst und nicht zuletzt auch Informationen breiter und schneller gestreut werden“, schreiben die PwC-Experten in einer Analyse zu ihrer Umfrage.

Dies stärke bei richtiger Anwendung Gemeinwohl und Zivilgesellschaft. Die Digitalisierung bietet damit insbesondere für die Stadtpolitik und Stadtverwaltung ein „enormes Potenzial“, das bei den Bürgern vorhandene Wissen für die Stadtentwicklung zu nutzen und die Wünsche der Bevölkerung viel gezielter und genauer zu berücksichtigen.


Konsens bei Bürgerbefragungen als Projektbeschleuniger

Laut der PwC-Umfrage haben 51 Prozent der Befragten bereits an Beteiligungsverfahren teilgenommen. Als Vorreiter gelten Berlin und Hamburg. Hier haben laut der Erhebung fast 60 Prozent der Bürger schon ein solches Format genutzt. In Berlin gibt es beispielsweise seit bald drei Jahren eine sogenannte Beteiligungsplattform. Bürger sollen damit die Möglichkeit haben, Berlin mitzugestalten. Auf der Webseite heißt es dazu: „Es gibt unterschiedliche Wege der Beteiligung – von der Frage nach Vorschlägen und Meinungen bis hin zu Entscheidungsfindungen.“

Auf Bundesebene schwebt Union und SPD ein ähnliches Format vor. Im Koalitionsvertrag ist von der Schaffung einer Beteiligungsplattform für alle veröffentlichten Gesetzentwürfe der Bundesregierung die Rede, „die der transparenten Beteiligung von Bürgern und Verbänden dient und zu denen die Bundesregierung dann Stellung nimmt“.

Dass digitale Befragungen tatsächlich das Zeug hätten, Demokratie zu beleben, wie sich das die GroKo zum Ziel gesetzt hat, zeigt ein weiterer Befund der PwC-Studie. Danach sind die meisten Befragten (63 Prozent) der Meinung, dass Onlinebeteiligungen grundsätzlich zu höherer Teilnahme motivieren. Fast drei Viertel sehen vor allem Flexibilität und Zeitersparnis als Vorteile digitaler Beteiligungsformate. Denn anders als Wahllokale ist deren Nutzung nicht an feste Orte gebunden. Komfort sei demnach ein „wesentlicher Anreiz“, schlussfolgern die Experten.

Die digitale Bürgerbeteiligung birgt jedoch auch Risiken: „Offene Online-Umfragen sind beliebig manipulierbar“, sagte Simon Hegelich, Professor für Political Data Science an der TU München, kürzlich der „Süddeutschen Zeitung“. Dass sich Leute absprechen und bewusst mehrfach an einer Umfrage teilnehmen, könne man auch gar nicht verhindern: „Das konnte man noch nie.“

Das Internet macht derlei Stimmungsmache noch einfacher. „Man darf nie vergessen: Die Menschen handeln online immer anders als im echten Leben“, so Hegelich. „Und sie reagieren auch anders auf eine Umfrage, als wenn sie sich wirklich damit beschäftigen.“

Problematisch findet Hegelich zudem den Aspekt der Erreichbarkeit. Die meisten Nutzer beteiligten sich kaum oder wenig, nehmen vielleicht einmal in drei Monaten an einer Abstimmung teil. Demgegenüber stehe eine kleine Gruppe von Meinungsmachern, die sich extrem stark beteiligt. „Die Leute, die regelmäßig an Abstimmungen teilnehmen, sind immer dieselben“, erläuterte Hegelich. Oft werden in Online-Umfragen nur gut hundert Stimmen abgegeben, manchmal auch ein paar Tausend, dadurch können einzelne, die mehrfach abstimmen, schnell starkes Gewicht bekommen.

Dennoch besteht auch aus Sicht von Architekten und Ingenieuren die Notwendigkeit, Bürger bei der Planung öffentlicher Großprojekte, wie den Bau des neuen Bahnhofs Stuttgart 21 oder des neuen Hauptstadtflughafens BER, stärker einzubeziehen. Mit Blick auf Bürgerproteste sagte der Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), Ralph Appel, jüngst der „Welt am Sonntag“: „Man müsste die Planungsphasen dazu verwenden, den Nutzen der Projekte klarer zu formulieren und darüber mit den betroffenen Menschen mehr zu reden.“ Konsens bei den Betroffenen sei ein Projektbeschleuniger.

Das sieht auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) so, die in einer Video-Botschaft Anfang Dezember eine schnellere Umsetzung wichtiger Infrastrukturprojekte anmahnte. Dabei gehe es auch um die Frage, wie sich Bürgerbeteiligung früher realisieren lasse, damit nicht so viele Einsprüche kämen.

Warum also nicht digitale Beteiligungsformate nutzen? Ein Bedarf scheint vorhanden, wie die PwC-Umfrage zeigt. Über 60 Prozent Bundesbürger wünschen sich jedenfalls Befragungen zu städtebaulichen Maßnahmen, zu Verkehr, zu Stadtquartiersprojekten sowie zur Verwendung von Haushaltsmitteln. Und etwa die Hälfte der Befragten meint, dass auch infrastrukturelle Großprojekte für eine Online-Beteiligung infrage kommen.

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