Ungleichheit ist nicht unbedingt ungerecht. Die meisten Menschen akzeptieren grundsätzlich, dass Einkommen ungleich sind. Die deutsche Einkommenswirklichkeit betrachten allerdings einer Studie zufolge vor allem deswegen viele Menschen als ungerecht, weil am unteren Ende zu wenig verdient werde. Relativ hohe Einkommen empören deutlich weniger Menschen.
Das ist ein zentrales Ergebnis einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) von Jule Adriaans und Stefan Liebig, Direktor der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP). Befragt wurden hierfür in einer repräsentativen Umfrage (LINOS-2) 2417 Personen zu ihrer Gerechtigkeitswahrnehmung bestimmter Einkommensklassen. Hohe Erwerbseinkommen (6100 Euro brutto im Monat im Durchschnitt) werden von etwa der Hälfte der Befragten als gerecht bewertet, 38 Prozent finden sie zu hoch. Mittlere Einkommen (durchschnittlich 2700 Euro im Monat) empfinden 81 Prozent als zu niedrig, geringe Einkommen von etwa 1200 Euro im Monat nehmen gar 96 Prozent der Befragten als zu niedrig wahr.
„Aus Sicht fast aller befragten Beschäftigten sind Menschen in Deutschland am unteren Ende der Lohnverteilung unterbezahlt, und das empfinden alle als ungerecht“, fasst Studienautorin Jule Adriaans das Ergebnis zusammen. Wenn politische Eingriffe also das Gefühl der Bevölkerung, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, erhöhen wollten, müssten sie vor allem bei den niedrigen Löhnen ansetzen, schlussfolgern die Autoren. Allerdings, das räumt Adriaans ein, wurde nicht nach der Akzeptanz extrem hoher Topeinkommen gefragt.
Das Sozialpaket der schwarz-roten Koalition
Erstmals will der Bund eine Garantie für eine bestimmte Höhe des Rentenniveaus und des Beitragssatzes geben - und dafür notfalls auch mit Geld aus dem Bundeshaushalt einstehen. Diese "doppelte Haltelinie" gilt bis zum Jahr 2025. Eine „Niveausicherungsklausel“ stellt sicher, dass die Rentenerhöhungen bis dahin in jedem Jahr ausreichen, um ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent - bezogen auf einen Durchschnittslohn - zu erreichen. Für den Beitragssatz soll im selben Zeitraum eine Obergrenze von 20 Prozent gelten.
Beschlossen wurde auch die Ausweitung der Mütterrente: Allen Erziehenden von vor 1992 geborenen Kindern soll jeweils ein halber Rentenpunkt angerechnet werden. Ursprünglich war im Gesetzentwurf vorgesehen, dass nur Mütter mit mindestens drei vor 1992 geborenen Kindern einen ganzen zusätzlichen Rentenpunkt erhalten.
Krankheitsbedingte Frührentner werden bei der Berechnung ihrer Rente so gestellt, als ob sie bis zum regulären Renteneintrittsalter gearbeitet hätten. Rund drei Millionen Geringverdiener profitieren zudem von einer Entlastung bei den Sozialabgaben.
Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung wird zum 1. Januar 2019 um 0,5 Prozentpunkte gesenkt. Zurzeit liegt der Beitragssatz bei 3,0 Prozent des Bruttolohns. Eine Senkung um 0,4 Punkte wird per Gesetz festgeschrieben. Der Entwurf dazu soll am 19. September vom Kabinett beschlossen werden. Eine Absenkung um weitere 0,1 Punkte soll bis Ende 2022 befristet und durch eine Verordnung umgesetzt werden.
Künftig wird zudem ein Automatismus zu einer weiteren möglichen Beitragssenkung eingebaut. So soll es laut dem gemeinsam beschlossenen Papier eine allgemeine Rücklage im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit (BA) von 0,65 Prozent des BIP geben. Das entspricht derzeit rund 22,5 Milliarden Euro. Wenn die Rücklage diesen Wert dauerhaft um einen Betrag übersteigt, der mehr als 0,1 Prozentpunkten des Beitrages entspricht, soll der Arbeitsminister per Verordnung erneut aktiv werden.
Das Bundesarbeitsministerium wird ein Gesetz vorlegen, um Qualifizierung und Weiterbildung auf Kosten der BA auszubauen. Eine berufliche Weiterbildung soll denjenigen Arbeitnehmern zugute kommen, deren berufliche Tätigkeiten durch Technologien ersetzt werden können oder die in sonstiger Weise vom Strukturwandel bedroht sind.
Künftig sollen auch diejenigen Arbeitslosengeld I beziehen können, die innerhalb von 30 Monaten zwölf Monate gearbeitet und Beiträge bezahlt haben. Bislang besteht nur Anspruch auf Arbeitslosengeld I, wenn man innerhalb von zwei Jahren mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.
Die 70-Tage-Regelung für eine sozialversicherungsfreie kurzfristige Beschäftigung, die bereits seit 2015 gilt, soll unbefristet verlängert werden.
Bis zum Wohnungsbaugipfel am 21. September will die Bundesregierung im Kabinett das Mieterschutzgesetz und den Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung des Mietwohnungsneubaus beschließen, Grundsätze zur Weiterentwicklung des Mietspiegels entwickeln und das Baukindergeld als Förderprogramm der Förderbank KfW starten.
Die Studie beschäftigt sich auch mit der Wahrnehmung des eigenen Einkommens. Im Sozio-oekonomischen Panel wird regelmäßig erfragt, welchen Bruttolohn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für sich selbst als gerecht erachten würden. Die Analyse zeigt: In dieser „fairen“ Welt, wo alle das bekommen, was sie für gerecht halten, würde die Streuung der Einkommen kaum anders ausfallen als in der Realität, auch wenn untere und mittlere Einkommen etwas höher wären.
„Die Tatsache, dass es Ungleichheiten gibt, wird grundsätzlich akzeptiert“, sagt Adriaans. „Die meisten wünschen sich, was die Einkommen angeht, keine egalitärere Gesellschaft, solange das Leistungsprinzip, wonach diejenigen, die sich am meisten anstrengen, am meisten bekommen, respektiert wird. Allen voran die, die wenig verdienen, würden aber für sich eine höhere Entlohnung gerechter finden.“
Volkswirtschaftlich interessant sind die Konsequenzen, die Menschen nach eigenen Angaben aus der Wahrnehmung ungerechter Einkommen ziehen. Befragte, die sich selbst als unterbezahlt sehen, tendieren dazu, ihre Leistung am Arbeitsplatz zurückzufahren. Man passt also die Anstrengungen an das niedrigere Belohnungsniveau an und versucht somit individuell, ein gerechtes Verhältnis wiederherzustellen.
Aber auch Menschen, die hohe Einkommen für zu hoch halten, leisten im eigenen Job weniger – vermutlich weil sie frustriert über die Verletzung des Leistungsprinzips sind. Liebig: „Wenn Spitzenmanager hohe Bezüge erhalten und ihr Leistungsverhalten dem nicht entspricht oder das zumindest nicht so wahrgenommen wird, dann wird dies offenbar als eine Verletzung des Leistungsprinzips, das in dieser Gesellschaft sehr stark verankert ist, angesehen, sodass die Leute sagen: wenn die da oben trotz schlechter Leistung viel verdienen, warum soll ich mich dann anstrengen?“
Die Auswirkungen auf die politische Kultur sind nicht weniger brisant. “Die wahrgenommene Unterbezahlung am unteren Ende der Einkommensverteilung wird möglicherweise als ein Versagen des politischen Systems interpretiert“, heißt es in der Studie. Sowohl Personen, die ihr eigenes Einkommen als zu niedrig empfinden, als auch diejenigen, die die unteren Einkommen generell als zu gering einstufen, tendieren dazu, sich aus der politischen Teilhabe zurückzuziehen, also nicht an Wahlen teilzunehmen. Der Zusammenhang zwischen geringen Einkommen und geringer Wahlbeteiligung hat auch der Soziologe Armin Schäfer schon vor einigen Jahren belegt: Je ärmer ein Stadtteil, desto geringer die Wahlbeteiligung.
Was Arbeitnehmer wollen
61,5 Prozent aller Befragten gab an, dass ihnen Sicherheit und berufliche Perspektive in der Industrie 4.0 sehr wichtig sind; 32 Prozent gaben an, das sei wichtig.
Quelle: IG Metall (https://www.igmetall.de/24-2017-25172.htm)
Stand: April 2017
Bildungspolitik soll Bildungserfolge unabhängig von der sozialen Herkunft ermöglichen und das Recht auf berufliche Fortbildung durchsetzen – das ist 56,5 Prozent ein sehr wichtiges Anliegen und 36,4 ein wichtiges.
Beschäftigte brauchen auch in Zukunft ein Arbeitsgesetz, das der Arbeitszeit Grenzen setzt. Dem stimmten 78,4 Prozent der Befragten zu und 18 weitere Prozent stimmten dem eher zu.
Wer seine Arbeitszeit auf Teilzeit reduziert, brauche ein gesetzlich garantiertes Rückkehrrecht auf Vollzeit – dieser Aussage stimmten 66 Prozent der Befragten zu, 24,1 Prozent stimmten ihr eher zu.
Wie wichtig ist für Sie Verteilungsgerechtigkeit durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen, hoher Vermögen und großer Erbschaften? Das fragte die IG Metall. 40,9 Prozent gaben an, das sei ihnen sehr wichtig, 36,1 Prozent sei das wichtig.
Die Reaktion auf das Empfinden von Ungerechtigkeit ist also, wie Liebig sagt, kein Aufbegehren, sondern eher der Rückzug. „Wenn ich mich unterbezahlt fühle, sinken meine Motivation am Arbeitsplatz und mein Interesse am politischen Meinungsbildungsprozess. Aber auch der Blick, den ich auf die Verteilung der Einkommen im Allgemeinen werfe, scheint auf beide Komponenten einen Effekt zu haben: Das Gefühl, dass es insgesamt ungerecht zugeht, ist sowohl für das Engagement am Arbeitsplatz als auch für die politische Teilhabe nicht förderlich“, sagt Stefan Liebig.
Sein Rat an die Politik: „Sollen die Menschen in Deutschland das Gefühl bekommen, dass es gerechter zugeht, sind die niedrigen Löhne auf jeden Fall ein prioritäres Handlungsfeld. Mit der Einführung des Mindestlohns wurden hier bereits erste Schritte unternommen.“