In diesem Moment darf er keine Freude zeigen, das weiß Christian Lindner. Wer freut sich schon darüber, dass die Briten im vergangenen Jahr dafür gestimmt haben, die Europäische Union zu verlassen? Oder dass die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben? Oder dass die Flüchtlingskrise einen Keil zwischen die Europäer und die Deutschen treibt?
Beim traditionellen Dreikönigstreffen in Stuttgart spricht Christian Lindner an diesem Freitag über genau diese Verwerfungen. Sie zeigen einen Trend, nämlich, dass die Menschen dem politischen Establishment misstrauen. „Nichts ist mehr selbstverständlich“, sagt Lindner. Auch die liberalen Werte selbst nicht. Der FDP-Chef freut sich nicht über Brexit, Trump und Flüchtlingskrise, sieht darin aber durchaus eine Chance. Eine Chance, dass seine Partei im Herbst wieder in den Bundestag einzieht.
Vor über drei Jahren waren die Liberalen aus dem Parlament geflogen, Lindner wurde im Anschluss Parteichef und verordnete der FDP einen Kurs der Erneuerung. Das Signal vom diesjährigen Dreikönigstreffen soll sein: Die Erneuerung ist geschafft, die Leute verstehen, warum die FDP fehlt. Jetzt muss die Partei nur noch gewählt werden.
Die Chancen, dass das nationale Comeback im Herbst gelingt, stehen gut. In Baden-Württemberg holte die Partei bei der Landtagswahl im letzten März 8,3 Prozent, in Rheinland-Pfalz 6,2 Prozent (und zog sogar in die neue Landesregierung ein) und in Berlin, das keine liberale Hochburg ist, knapp sieben Prozent. Derzeit ist die FDP in neun von 16 Landtagen vertreten. Bundesweit steht sie in Umfragen zwischen fünf und sieben Prozent. Zurück in den Bundestag? Gut möglich, aber noch nicht entschieden.
Der Fahrplan für dieses Jahr sieht wie folgt aus: Bis Mai wird im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gewählt. In allen drei Ländern will die Partei Wahlsiege feiern. Nordrhein-Westfalen soll dann eine Art Krönung für Lindner werden. Er tritt dort als Spitzenkandidat an, hofft auf ein gutes Ergebnis, das er dann öffentlichkeitswirksam als Auftrag deuten möchte, die FDP in den Bundestag zurückzuführen – unter seiner Regie.
Damit das gelingt, muss Lindner in diesem Jahr klarmachen, was die FDP von Union, SPD, Grünen, AfD und Linken unterscheidet. So ziemlich alles, ist der FDP-Chef überzeugt. Immer wieder spricht er über die politische Mitte. „Die Mitte der Gesellschaft gerät aus dem Blick“, sagt Lindner. Union, SPD, Grüne und Linke kämpfen nach Lindners Verständnis im linken Lager um Stimmen, die AfD hat sich rechts außen breit gemacht. „Die Argumente werden rauer, wir aber bleiben in der vernünftigen Mitte.“ Das sei in diesem Jahr die „unbequemste Position“.
Und wie will er die Mitte für sich gewinnen? In der Flüchtlingskrise thematisiert der FDP-Chef vor allem das, was nicht funktioniert. Dass Deutschland zeitweilig die Kontrolle über die Grenzen verloren hatte, sei alles andere als liberal, weil so der Rechtsstaat beschädigt würde. Die Maghreb-Staaten, also Tunesien, Algerien und Marokko, müssten endlich zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden, damit Migranten, die kein Aussicht auf Asyl in Deutschland haben, schneller zurückgebracht werden können.
"Fortschrittsbeschleuniger"
Und die Vorschläge von Innenminister Thomas de Maizière, den Sicherheitsorganen des Bundes mehr Kompetenzen zu geben? Die lehnt er nicht grundsätzlich ab, mehr Videoüberwachung könnte hier und da schon sinnvoll sein. Lindner fokussiert seine Kritik eher auf die Art, wie die Bundesregierung agiert.
Ergebnisse der FDP bei Bundestagswahlen
1949 startet die FDP mit 11,9 Prozent der Wählerstimmen.
Quelle: Statista/Bundeswahlleiter 2015
Immer noch fast 10 Prozent der Wähler können sich für die Liberalen begeistern: 9,5 Prozent.
1957 bekam die FDP einen Stimmenanteil von 7,7 Prozent.
12,8 Prozent der Wähler stimmen für die FDP. Das ist das zweitbeste Wahlergebnis für die Partei auf Bundesebene überhaupt.
Das gleiche Ergebnis wie 12 Jahre zuvor: 9,5 Prozent der Stimmen entfallen auf die Freien Demokraten.
Acht Jahre nach dem zweitbesten Wahlergebnis auf Bundesebene fährt die FDP das zweitschlechteste ein: Nur 5,8 Prozent der Wähler stimmen für die Liberalen.
Die FDP kommt auf einen Stimmenanteil von 8,5 Prozent.
Die FDP bekommt 7,9 Prozent der Stimmen.
Fünfmal knackte die FDP (Stand: 2015) bei Bundestagswahlen bisher die 10-Prozent-Marke: 1949, 1961, 1980 (10,6 Prozent) und 2009.
1983 bekommt die FDP 7 Prozent der Stimmen.
Die Liberalen bekommen 9,1 Prozent der Stimmen.
11,7 Prozent der Wählerstimmen gehen an die Freien Demokraten.
Die FDP kommt auf 6,9 Prozent der Stimmen.
Leichte Verluste: 6,2 Prozent der Wähler stimmen für die Liberalen.
Immerhin 7,4 Prozent der Wählerstimmen kann die FDP holen.
Die FDP schnellt hoch auf 9,8 Prozent.
Die Bundestagswahl 2009: Vorläufiger Höhepunkt der FDP. 14,6 Prozent der Wähler stimmen für sie.
Nach dem Höhe- der Tiefpunkt: Die FDP stürzt ab, schafft die Fünf-Prozent-Hürde nicht (4,8 Prozent) - zum ersten Mal seit 1949 sitzen die Liberalen nicht im Bundestag.
Union und SPD hatten unabhängig voneinander Vorschläge gemacht, wie die innere Sicherheit verbessert werden soll. Der Wahlkampf ist eben längst im Gang. „Eine Regierung, die in einer solchen Phase nicht geschlossen agiert, schafft kein Vertrauen, sondern wird selbst zu einem Sicherheitsrisiko“, meint Lindner. Er weiß, dass ein Großteil der Bevölkerung wohl höhere Sicherheitsmaßnahmen mittragen würde.
Würde sich die FDP diesen verweigern, könnten sie viele als weltfremd wahrnehmen, ist vermutlich Lindners Überlegung. Vor allem der sozialliberale Flügel, der im Zweifel eher pro Bürgerrechte und weniger pro Sicherheit argumentiert, dürfte das kaum gefallen. Der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum beispielsweise, einer der prominentesten Vertreter des sozialliberalen Flügels, warnt in der WirtschaftsWoche vor Verschärfung von Sicherheitsgesetzen. Die Vorschläge von de Maizière seien „Volksverdummung“.
Wirtschaftspolitisch will Lindner seine Partei im Wahljahr als „Fortschrittsbeschleuniger“ positionieren. Die deutsche Wirtschaft müsse dringend neue Geschäftsmodelle entwickeln, für die die Politik die Rahmenbedingungen schaffen solle. „In 20 Jahren sollten 20 Prozent der Unternehmen im Dax jünger als 20 Jahre alt sein.“ Der derzeitige Wohlstand dürfe nicht für zu viel Zufriedenheit sorgen. „Wer das macht, versündigt sich an den Interessen der jüngeren Generation“, ist Lindner überzeugt.
Lindner schwört FDP auf Bundestagswahl ein
Die FDP will zudem die Infrastruktur im Land verbessern und fordert unter anderem, ein modernes Glasfaserkabelnetz zu bauen. Die Digitalisierung sei vor allem eine Chance. Mögliche Sorgen in der Bevölkerung, dass die digitale Revolution Jobs kosten könnte, seien zwar nachvollziehbar, dürften aber nicht dafür sorgen, dass Deutschland international den Anschluss verpasst.
„Die größte Provokation ist unser Optimismus“, sagt Lindner dann noch. Genau mit dieser Haltung geht er die wirtschaftspolitischen Themen an. Bei der Einwanderungsfrage setzt er aber vor allem auf Konfrontation zur Politik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). „Es war falsch von der Bundesregierung die Grenzen zu öffnen“, stellt er zum Schluss seiner Rede lapidar fest. Bei der Bundestagswahl im Herbst entscheiden die Wähler, ob die FDP diesen Politikansatz im nächsten Deutschen Bundestag vertreten soll. Und ganz nebenbei entscheiden sie über die politische Zukunft von Christian Lindner.