Ehemaliger SPD-Kanzlerkandidat Steinbrücks Buch: „Das Elend der Sozialdemokratie“

Peer Steinbrück hat ein neues Buch geschrieben. „Das Elend der Sozialdemokratie“ ist keine billige Abrechnung – sondern legt den Finger in die Wunde.

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SPD: Peer Steinbrück stellt Buch vor Quelle: dpa

Peer Steinbrück betritt die Bühne und richtet seine leuchtend orangene Krawatte. „Ich unterliege schließlich keinem Schweigegelübde“, stellt Steinbrück von Anfang an klar und lehnt sich in seinem Stuhl zurück – bereit über die Entwicklung der SPD zu reden.

Der Ex-Kanzlerkandidat stellte sein neues Buch „Das Elend der Sozialdemokratie – Anmerkungen eines Genossen“ in Berlin vor. Es ist seit Dienstag im Handel und erscheint damit zu einer Zeit, zu der die Partei turbulente Wochen hinter sich hat, inklusive des Abschieds des SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten von 2017, Martin Schulz.

Gleich im ersten Satz schreibt Steinbrück, dass er natürlich weiß, dass er angreifbar ist mit seiner schonungslosen Analyse. „Ja, ich weiß: Der Verlierer von 2013 sollte sich mit einer Analyse der Wahlniederlage der SPD vom September 2017 zurückhalten.“ Sein Buch sei jedoch keine Aufrechnung oder ein Anflug von Häme. Es ginge eher um eine „ungeschminkte Ursachenanalyse“, die Steinbrück schon nach der Wahl 2013 forderte und für die seiner Partei „offenbar nicht nur die Zeit, sondern auch der Wille“ fehlte. Er habe das Buch geschrieben und sich zu der aktuellen Entwicklung geäußert, „weil die Lage ernst ist“, erklärt Steinbrück in Berlin.

Steinbrück ist überzeugt davon, dass viele Tücken für Programm, Ausrichtung und Organisation offenbart worden wären, hätte die SPD schon eine Analyse nach den heftigen Wahlniederlagen von 2009 und 2013 in Betracht gezogen und wäre „nicht bloß auf der Oberfläche gesurft“. Die Sorge, dass seine Partei diese Fehler erneut begehe und sich wieder „verschiedene Deckmäntelchen umhängen wird, statt schonungslos in die tieferen Gründe ihrer Misere vorzustoßen“, habe ihn zu dieser „ebenso umstrittener wie Streit auslösenden Wortmeldung“ veranlasst.

In Anbetracht des schlechten eigenen Wahlkampfes von 2013 und der Tatsache, dass Steinbrück noch nie eine Wahl gewonnen hat, kommt es durchaus selbstgerecht daher, wie er sich an der aktuellen SPD abarbeitet.

Die ersten Reaktionen von SPD-Mitgliedern habe er auch schon erhalten: ‚Das darf er doch nicht sagen’, werde ihm dann vorgeworfen. „Durch meinen Stinkefinger habe ich angeblich den Anspruch verloren, die SPD zu kritisieren“, so Steinbrück und schüttelt den Kopf. „Das war ein massiver Fehler meinerseits.“ Trotzdem müsse sich die SPD jetzt auf die hitzigen Diskussionen einlassen. „Wann ist denn sonst der Zeitpunkt gekommen um den Finger aufs Schlimme zu legen? Die Lage meiner Partei erlaubt leise Tretereien nicht mehr“, weist er in Berlin seine Kritiker zurück.

Es geht dem Hanseaten um die großen, langen Linien seiner Partei. Doch bisher ist nicht bekannt, dass sich der für seine lukrativen Nebenverdienste immer wieder in der Kritik stehende Steinbrück aktiv in den geplanten SPD-Erneuerungsprozess einbringen will. Sein Buch ist eine provokante Streitschrift, die zumindest für ihn persönlich aus verkaufstechnischer Sicht sicher nicht zum falschesten Zeitpunkt kommt.

Steinbrück kritisiert in seinem Buch den auf 45 Leute aufgeblähten Vorstand. „Der eine oder andere, der eigentlich eine Hauptrolle übernehmen sollte, fehlt. Der eine oder andere, der eigentlich in die Provinz geschickt werden sollte, darf weiterhin überall und jederzeit seine Texte aufsagen – unabhängig davon, ob sie ankommen oder nicht.“

Das Wort des Jahres der SPD laute „Erneuerung“ – aber statt wirklich alte Pfade zu verlassen und eine schonungslose Analyse zu betreiben, setze man auf „politische Sandkastenspiele.“ Wenn einer wie Olaf Scholz mal den Finger in die Wunde lege, werde er wie beim Bundesparteitag im Dezember bei der Wahl der Vizes mit 59,2 Prozent böse abgestraft.

Auch stellt Steinbrück klar, dass die SPD weniger an der großen Koalition und Angela Merkel gelitten habe, „als vielmehr an sich selbst“. Hinweise auf Gründe für den Sinkflug der SPD seien an „einer Wand aus Selbsthypnose“ abgeprallt. So gebe es beim Thema Flüchtlinge die Pole „Refugees welcome“ und „Grenzen dicht“. Gleiches beim Thema Europa – die einen wollten mehr Geld überweisen, die anderen nicht weiter Zahlmeister sein. Die SPD versuche das mit Beschlüssen zu umschiffen, die das Profil bis zur Unkenntlichkeit verwässerten. „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, kritisiert Steinbrück.

Die SPD sei dann mehrheitsfähig gewesen, wenn sie drei Profile zugleich habe anbieten können: soziale Kompetenz, wirtschaftlichen Sachverstand und Plattform für zentrale gesellschaftliche Debatten. „Sie darf sich deshalb nicht länger darauf beschränken, eine Art Dienstleistungsagentur für die Alltagssorgen der Bürger zu sein.“ Es gehe um die Stärkung des „wunderbaren Kontinents Europa“, die Zähmung des Kapitalismus 2.0 und ein Einhegen des Rechtspopulismus der AfD. Seine Partei hätte sich stärker zum Anwalt einer sicheren Zukunft machen müssen.

„Sie merken schon, ich kann mich bei diesem Thema schlecht zurückhalten“, räumt Steinbrück gegen Ende ein und betont, dass es sich hier „um eine Krise des etablierten Parteiensystems handelt, nicht aber um eine Krise der Demokratie.“

Mit Material von dpa

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