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Ein Jahr im Amt Joachim Gauck trifft den Ton

Der Bundespräsident kann auf ein gutes erstes Jahr im Amt zurückblicken. Das Staatsoberhaupt ist wieder ein Diskurszentrum - wenn auch noch keine Institution.

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Was Gauck über die Wirtschaft denkt
Er sei ein lernender Demokrat, sagt Joachim Gauck. In den Bereichen der Demokratie und Gesellschaft hat der Ex-Bürgerrechtler im Unrechtsstaat DDR wohlmöglich viel gelernt. Wofür er in Wirtschaftsfragen steht, ist in der öffentlichen Wahrnehmung längst nicht so präsent. Gauck hat in diesem Bereich jedoch grundlegende Ansichten geäußert. Ein Überblick in Zitaten zur Finanzkrise und Hartz IV. Quelle: dpa
Auf eine Europafahne fallen ein Euro Münzen Quelle: dpa
Zum Thema Sozialstaat & Hartz IV: „Neulich erzählte mir mein Fahrer von seinem Cousin, der mit den gesamten Sozialleistungen ungefähr 30 Euro weniger als er hat. Mein Fahrer muss aber fast immer um fünf Uhr aufstehen. Er sei der Dumme in der Familie, aber er sagte mir auch: "Ich kann das nicht, ich kann nicht so dasitzen." Da habe ich gesagt, dass er denen erzählen soll, wie gut er sich mit Arbeit fühlt. Wir sehen ja auch in den Kreisen der Hartz-IV-Empfänger Leute, die politisch aktiv sind und auf eine Demonstration gehen. In diesem Moment verändert sich schon ihr Leben. Sie zeigen Haltung. Das ist sehr viel wichtiger, als dafür zu sorgen, dass die Alimentierung immer rundum sicher ist.“ Quelle: sueddeutsche.de„Ja. Nicht mit Begeisterung, aber als Bürger ist es für mich selbstverständlich, dass ich einen Beitrag zur Generationengerechtigkeit leiste.“ Zur Rheinischen Post, auf die Frage, ob er selbst bereit wäre, mehr Steuern zu zahlen.„Es darf nicht sein, dass der obere Teil der Gesellschaft vom Sparen unberührt bleibt. Höhere Steuern dürfen kein Tabu sein.“ Quelle: Passauer neue Presse„Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.“ ( im Zusammenhang mit Integrationsforderungen an Migranten, bei einer Feierstunde im Berliner Abgeordnetenhaus zum Einheits-Jubiläum) Quelle: AP
Zum Thema Marktwirtschaft: „Ich sage: Das Land (Deutschland) mag kapitalistisch sein, aber es ist lernfähig. Wer ausgerechnet aus der Wirtschaft alle Freiheit herausnimmt, der wird scheitern. Ich plädiere es so zu machen wie im Sport: Wir schaffen den Fußball nicht ab, weil es Raubeine und Foulspiele gibt, aber wir setzen Regeln und sanktionieren den Regelverstoß.“ Quelle: sueddeutsche.de„Wer aus dieser (Finanz-) Krise die Schlussfolgerung zieht, dass die Wirtschaft eine Art strenger Zähmung braucht, dem widerspreche ich. Ich wäre immer dagegen, einen Staatsdirigismus zu schaffen, der ein Primat der Politik über die Wirtschaft schafft.“ Quelle: Berliner Tagesspiegel am Sonntag Quelle: dpa
Zum Thema Einwanderung: „Wir dürfen die Menschen nicht ruhigstellen durch Versorgung. Das perpetuiert Abhängigkeit. Demokratie ist auf Mitwirkung angelegt. Im Gegensatz zur linken Propaganda muss klar sein, das wir den Menschen nichts Böses tun, wenn wir ihre Mitwirkung stimulieren und fordern. Darum bin ich für aktivierende Sozialpolitik.“ „Wenn wir gerne in diesem Land leben, dann können wir auch einladend sein. Ich sehe das aber noch nicht. Als ich in den Vereinigten Staaten war, bin ich auf Einwanderer getroffen, die innerhalb kürzester Frist begeistert waren von den USA, dieser so harten Gesellschaft. Sie sind stolz, Bürger dieses Landes zu sein. Dieses Bewusstsein hat sich tradiert in der US-amerikanischen Gesellschaft. Es gibt eine stärkere natürliche Bereitschaft, den Fremden als Teil der eigenen Umgebung zu akzeptieren. Da haben wir Nachholbedarf. Selbst in Europa gibt es Länder, die eine höhere Aufnahmebereitschaft haben als wir. Und das tut ihnen gut.“ Quelle: sueddeutsche.de„Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.“ ( im Zusammenhang mit Integrationsforderungen an Migranten, bei einer Feierstunde im Berliner Abgeordnetenhaus zum Einheits-Jubiläum) Quelle: ZB
Zum Thema Occupy-Bewegung sagte der ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde auf einer Veranstaltung der Wochenzeitung Die Zeit„Unsäglich albern" und „Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren." Gauck spielte damit auf die DDR an. Quelle: dapd

Auf den ersten Blick hat Joachim Gauck kein glänzendes Premierenjahr als Bundespräsident hingelegt, allenfalls ein solides. Auf den zweiten Blick wird klar, dass Gaucks glanzvolles Premierenjahr eben darin besteht, dass er solide 365 Tage hingelegt hat.

Nichts war wichtiger als Maß und Mitte und nach den  jungenstolz-pubertierenden Auftritten von Christian Wulff (und seiner Gattin) und erst recht nach der polithektischen Irrlichterei von Horst Köhler.

Wulff und Köhler waren, auf je ihre Weise, dem Amt ersichtlich nicht gewachsen. Wulff nicht, weil sein Repräsentations- und Geltungsbewusstsein noch größer war als sein Sendungsbewusstsein. Und Köhler nicht, weil er die Komplexitäten und  Widersprüche der Moderne nicht zu ordnen vermochte und die Deutschen mit jeder weiteren Rede verwirrte.

Joachim Gauck hat den Menschen wieder Vertrauen ins Amt des Bundespräsidenten geschenkt. Es fängt an, wieder als Diskurs- und Selbstverständigungszentrum der Deutschen wahrgenommen zu werden - wenn auch noch nicht als Institution. Die Republik hört hin, wenn der Bundespräsident etwas zu sagen hat – auch wenn sie noch nicht hellhörig wird, sobald Gauck etwas sagen möchte. Dies ist Gaucks erste Leistung: Er ist auf dem besten Weg, das Amt wieder als offizielles Leitmedium der Republik zu etablieren.

Seine zweite Leistung: Gauck hat sich in allerkürzester Zeit von parteipolitischen Besitzansprüchen befreit. Zur Erinnerung: Nach seiner Wahl suchten sich namentlich Liberale und Grüne in der Exegese von Gauck-Zitaten zu übertrumpfen.

Die feierliche Vereidigung von Joachim Gauck
Joachim Gauck Quelle: dapd
Die Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker (l.) und Roman Herzog ließen es sich nicht nehmen, zum Amtsantritt des neuen Bundespräsidenten ins Reichstagsgebäude in Berlin zu kommen. In einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat wurde Gauck vereidigt. Quelle: dpa
Gruppenfoto: In trauter Einigkeit präsentieren sich Bundeskanzlerin, Bundestagspräsident, Bundespräsident a.D. und Bundespräsident in spe vor der Zeremonie. Quelle: Reuters
Etliche Abgeordnete nahmen an der Vereidigung des neuen Bundespräsidenten teil. Am Sonntag hatte die Bundesversammlung den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und Theologen zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Quelle: dpa
Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte die Wahl Gaucks in seiner Rede als Zeichen des unaufhaltsamen Fortschritts beim Zusammenwachsen von Ost und West. Gauck werde getragen von einer Woge der Sympathie, die Erwartungen seien hoch. Quelle: dpa
Alter und neuer Bundespräsident: Auch Christian Wulff (r.) erschien mit Ehefrau Bettina im Reichstag. Er trat zurück, nachdem die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Vorteilnahme gegen ihn aufnahm. Quelle: Reuters
Norbert Lammert vereidigt Joachim Gauck zum Bundespräsidenten Quelle: dpa

Die einen sahen in ihm einen staatsfernen „Freiheitskämpfer“, der die Kraft des Individuums über alles stellt und sich deshalb auch vor sozialdemokratischen Umverteilungsdebatten ekelt. Die anderen sahen in ihm einen „Freiheitskämpfer“, der strukturelle Staatsgewalt am eigenen Leib erfahren hat und der die Demokratie daher ganz sicher auch gegen neue systemische Zwänge (des Kapitalismus, der Ökonomie, des Geldes  etc.) besonders emphatisch in Schutz nehmen werde.

Nach einem Jahr kann man sagen: Gauck hat beide Lager aufs Angenehmste enttäuscht – und offenbar viel Zeit damit verbracht, seinen (früher sehr persönlich und etwas zu eng gefassten) Freiheitsbegriff zu differenzieren.

Noch schöner ist – dritte Leistung -, dass man sich beim Bundespräsidenten Joachim Gauck nie ganz sicher sein, ob er die bundespräsidialen Grenzen in seinen Reden einhält – oder nicht doch ein klein wenig überschreitet. Das ist wundervoll, ganz gleich, ob man seine Meinungen teilt oder nicht. Zur Erinnerung: Vor seiner Zeit als Bundespräsident hat Gauck dem Politpublizisten Thilo Sarrazin für seine Deutschland-schafft-sich-ab-These „Mut“ bescheinigt und die Occupy-Bewegten mit dem Hinweis erledigt, sie verhielten sich „unsäglich albern“.

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