Ein Skandal im NRW-Wahlkampf Das Rentner-Debakel bei Mannesmann

Mülheims Oberbürgermeister Scholten holt die Vergangenheit ein. Als Manager der Mannesmann-Röhrenwerke ließ er den Stellenabbau mit Steuergeldern und EU-Mitteln finanzieren. Geschädigte berichten - mit Wut im Bauch.

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Der Oberbürgermeister von Mülheim war vor seiner Zeit als Politiker Personalmitarbeiter bei den Röhrenwerken von Mannesmann.

Düsseldorf Kämpferisch gibt sich die SPD am vergangenen Samstag in Mülheim. Martin Schulz ist aus Berlin gekommen, Hanelore Kraft aus Düsseldorf und Ulrich Scholten aus seinem Rathaus in Mülheim. Die Sonne scheint, 20 Grad, perfektes Wahlkampfwetter. Am 14. Mai wird in Nordrhein Westfalen ein neuer Landtag gewählt. In der heißen Wahlkampfphase geht es um jede Stimme.

„Wir wollen das Land menschlicher und gerechter machen, dafür steht auch die Stadt Mülheim.“, ruft NRW-Ministerpräsidentin Kraft der Menge zu. Mülheims Oberbürgermeister Scholten steht währenddessen ein paar Meter entfernt.

Er wird die Bühne nicht betreten und er wird auch keine keine Rede halten. Während die beiden Spitzenkandidaten seiner Partei wieder für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen, geht Scholten in seiner grünen Übergangsjacke und den beigen Hosen im Wahlvolk unter.

Ulrich Scholten war vor seiner Zeit als Oberbürgermeister von Mülheim Personalmanager bei den Mannesmann-Röhrenwerken – und damals hat er es mit der sozialen Gerechtigkeit nicht ganz so genau genommen. Mehr noch: Er ließ die Stahlarbeiter der Röhrenwerke im Stich.

Einer der das weiß und jetzt Wut im Bauch hat, ist Friedhelm Brors. Ein kalter Wintertag 2017, ein Wohnzimmer, wie es sie viele gibt im Duisburger Stadtteil Buchholz. Doch auf dem Couchtisch von Brors liegt etwas Besonderes. Teils jahrzehntealte Aktenvermerke in Klarsichthüllen.

Verträge seiner einstigen Kollegen bei den Mannesmann-Röhrenwerken. Brisante Dokumente, von denen Brors sich einfach nicht lösen kann. Der Mann sieht sich in eine Affäre verwickelt, die hunderte von Menschen schädigt.

Beim Bäcker, im Supermarkt, in der Kneipe, überall begegnet Brors Männern, die ihm einst vertrauten. Kollegen, die heute so alt sind wie er – knapp 70 und abhängig von der Rente, die sie bei Mannesmann verdienten. Doch genau dort, sagt Brors, liegt das Problem. Durch einen üblen Trick sei es dem Mannesmann-Management in den 90er Jahren gelungen, eine Verrentung ihrer Mitarbeiter zum Spartarif durchzuziehen.


„Meine Kollegen wurden nicht nur kalt entsorgt. Sie wurden betrogen.“

Brors arbeitete damals in der Personalabteilung der Röhrenwerke in Düsseldorf, und verstand als einer der wenigen, was wirklich passierte. „Meine Kollegen wurden nicht nur kalt entsorgt. Sie wurden betrogen“, sagt der wuchtige Mann. Aber er war zu schwach, es zu verhindern.

Brors Frust ist heute Teil deutscher Industriegeschichte. Die Mannesmann-Röhrenwerke waren Anfang der 1990er Jahre einer der weltweit größten Hersteller von Stahlrohren, und die Stahlindustrie steckte in einer weltweiten Krise.

Zehntausende von Arbeitsplätzen waren schon abgebaut, als sich 1994 eine weitere Sparrunde ankündigte. Um die Schmerzen zu lindern, stellten die Bundesregierung und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gut gefüllte Geldtöpfe bereit. Das weckte Begehrlichkeiten. Um an die Mittel zu kommen, sagt Brors, schreckten seine Chefs auch vor der Fälschung von Verträgen nicht zurück.

„Nachträglich wurde eine MUV-Regelung konstruiert“, steht in einer Aktennotiz der Düsseldorfer Personalabteilung vom 7. September 1994. Sie erklärt unverblümt, wie die Verschiebung der Mitarbeiter funktionierte, um an die EU-Mittel zu kommen.

Die Buchstaben MUV stehen für Montanunionvertrag. In den 90er-Jahren hatte die EGKS Gelder für den Stellenabbau in der Stahlbranche bereitgestellt. Unternehmen konnten für 55-Jährige sogenannte MUV-Regelungen beantragen. Wurden sie bewilligt, floss Geld.

Im Mannesmann-Konzern aber wurde nur die Tochter HKM in Duisburg für MUV-Regelungen zugelassen. Die Werke in Düsseldorf und Mülheim gingen leer aus. Die Reaktion der Geschäftsführung: Sie machte Mitarbeiter der Röhrenwerke auf dem Papier zu Mitarbeitern der HKM. Schon konnte sie sich an den EU-Töpfen bedienen.

An zentraler Stelle für diese Personalverschiebungen saß ein Mann, der es seitdem weit gebracht hat: Ulrich Scholten. Der 59-Jährige ist heute Oberbürgermeister von Mülheim, damals arbeitete er in der Personalabteilung der Röhrenwerke in Mülheim. Scholten machte unter seinen Kollegen diejenigen ausfindig, die für eine MUV-Regelung in Frage gekommen wären, hätten sie denn bei HKM gearbeitet. Dann machte er ihnen die „attraktiven Sozialverträge“ schmackhaft. Stimmten sie zu, schickte Scholten ihre Personaldaten an die HKM, sie erhielten neue Verträge. Und dann wurden sie entlassen.


In den Röhrenwerken kommt es fast zu Handgreiflichkeiten.


Einer von ihnen hieß Harald Weber.* August 1997, eine Ruhrpott-Kneipe in Duisburg. Weber sitzt neben einem Kumpel an der Bar und regt keine Miene. Um ihn herum wabern blauschimmernde Rauchschwaden, laute Musik dröhnt aus Lautsprechern, grölende Männer genießen ihren Feierabend. Weber nimmt das kaum wahr. Der Rohrwerker hat nur seinen Job im Kopf. Und den Aufhebungsvertrag, den er unterschreiben soll.

Stunden zuvor hat ihm die Personalabteilung in Düsseldorf angeboten, im Rahmen eines Sozialplans aus den Mannesmann-Röhrenwerken auszuscheiden. Die Konditionen sind verlockend: Fünf Jahre lang würde er 90 Prozent seines Nettoeinkommens beziehen, danach bekäme er eine abschlagsfreie Rente. Das Angebot gelte aber nicht lang.

Er vertraut der Personalabteilung. Schon am nächsten Morgen unterzeichnet Weber einen Aufhebungsvertrag. Dann verlässt er das Werksgelände. Scholten erledigt den Papierkram.

Fünf Jahre später kehrt Weber zurück, rasend vor Wut. Am 23. April 2002 findet er seinen ersten Rentenbescheid im Briefkasten. Noch auf der Straße öffnet er den Umschlag und bekommt einen Schock. Versprochen wurden ihm 1250 Euro im Monat. Nun stehen 18 Prozent weniger auf seinem Bescheid: 1050 Euro. Weber tobt. Dann fährt er zu seinem Arbeitgeber.

In den Röhrenwerken in Düsseldorf kommt es fast zu Handgreiflichkeiten. Weber platzt in eine Personalleitersitzung herein. Gerade richtig, denkt der Rentner. Er erklärt energisch sein Problem und fordert sofortige Schadensbehebung. Doch die Manager, die jetzt um den Tisch herumsitzen, beteuern Unkenntnis. Sie verweisen Weber an „den Dicken aus Zimmer Neun“.

Der Dicke ist Friedhelm Brors. Seinen Kosenamen hat er seiner kräftigen Statur zu verdanken, allerdings hat Brors auch ein dickes Fell. Das wird er jetzt brauchen.

Brors lässt sich Webers Personalakte zukommen. Sie wirkt wie ein Tatort. Manipulierte Verträge, Spuren von unsachgemäßer EU-Mittel- um sich den Stellenabbau mit Steuergeldern zu bezuschussen, waren Personalmanager wie Scholten nicht zimperlich. Dass sie dabei mit der Alterssicherung ihrer Kollegen spielten, schreckte sie nicht ab.

So besteht Webers Personalakte in zentralen Stellen aus Fiktion. Der Mannesmann-Mitarbeiter verließ das Unternehmen am 31. Juli 1997. Scholten selbst bestätigte Weber dies mit einem Schreiben vom 14. August 1997. Darin dankte er für seine „treuen und wertvollen Dienste“. Das Schreiben ist mit dem Logo „Mannesmann Rohr“ versehen.


Scholten und HKM wollen sich zu den Vorwürfen nicht äußern

Soweit die Realität. Für die subventionsfähige Fiktion dagegen wurde Webers Arbeitgeber einfach ausgetauscht. Seine Akte wurde so umgeschrieben, dass er nie bei den Mannesmann-Röhrenwerken arbeitete, sondern immer bei HKM.

Damit hatte die Personalabteilung Bahn frei für die Beantragung von Unterstützungsgeldern. „Anbei der MUV-Vertrag vorab als Fax. Das Original folgt per Werkspost“, heißt es in einem Fax vom 7. August 1997 an Scholten. Der leitete die frisierten Papiere an HKM weiter.

All das ist lang her. Oberbürgermeister Scholten kann sich heute kaum noch an Einzelheiten erinnern, sagt er auf Nachfrage des Handelsblattes. Über Rückdatierungen sei ihm nichts bekannt, zu einzelnen Personalien dürfe er aus Datenschutzgründen eh nichts sagen. Und die Versetzung von Mitarbeitern von den Mannensmann-Röhrenwerken zur HKM zwecks Erlangung von öffentlichen Geldern? Scholten: „Die MUVs sind mit dem Arbeitsamt abgestimmt gewesen.“

Das Arbeitsamt in Duisburg jedoch kann die Vorgänge nicht mehr nachvollziehen. Zehn Jahre seien die Unterlagen zu den Montanunionsverträgen aufbewahrt worden. Jetzt sind sie weg. Aus der Presseabteilung des Amtes heißt es: „Die dargestellten Vorgänge aus 1997 können nicht mehr geprüft werden.“

Bei HKM hält man sich ebenfalls bedeckt. Zu Einzelheiten des Sachverhalts könne man nichts mehr sagen. Die Personalabteilung der Röhrenwerke in Düsseldorf, mittlerweile vom französischen Konzern Vallourec aufgekauft, wollte sich auch auf mehrfache Anfrage zu den Vorwürfen nicht äußern.

So bleibt die Verteilung der Verantwortung im Nebel. Klar ist: 1997 wurde Weber mit Scholtens Zutun zu einem Mitarbeiter eines Unternehmens, bei dem er nie gearbeitet hatte. Die Kreativität der Personalabteilung war damit aber noch nicht am Ende. Parallel zu seiner „Versetzung“ wurde Webers Aufhebungsvertrag um mehr als ein Jahr zurückdatiert: auf den 2. Februar 1996. So erreichte sein Arbeitgeber eine noch höhere staatliche Beteiligung an den Sozialplankosten.


„Je mehr ich in die Akten schaute, desto mehr Ungereimtheiten stießen mir auf“

Umschreiben von Verträgen, übermäßige Inanspruchnahme öffentlicher Mittel – all das hätte Weber nie gekümmert, hätten Scholten und seine Kollegen nicht einen wichtigen Fehler gemacht. Bei all dem Herumdoktern an Weber Personaldaten vergaßen sie, eine sogenannte Vertrauensschutzerklärung beim Rentenversicherungsträger zu hinterlegen. Dies war eine Bescheinigung, die eine abschlagsfreie Rente garantieren sollte.

Für Weber bedeutete das Versehen eine Kürzung der gesetzlichen Rente in Höhe von 18 Prozent. Erst als er sich vehement wehrte, besserte der Arbeitgeber, bei dem er nie gearbeitet hatte, nach. Hunderten Mitarbeitern erging es wie Weber. Wie viele sich erfolgreich wehrten, ist nicht bekannt.

Aber auch Webers Rententrauma war noch nicht vorbei. Im November 2014 tauchte ein neues Problem auf. Weber wurde eine Betriebsrentenerhöhung verweigert. Begründung: Die wirtschaftliche Lage seines ehemaligen Arbeitgebers lasse kein Plus zu.

Der Pensionär kam sich nun vollends vor wie in einem Kafka-Roman. In seinem ganzen Leben hatte er nicht einen einzigen Tag bei der Firma HKM gearbeitet. Nun, 17 Jahre nach seinem Ausscheiden bei den Mannesmann-Röhrenwerken, wurde seine Pension danach bemessen, wie es einer ihm gänzlich fremden Firma ging. Und alles, weil seine Chefs damals in die öffentlichen Geldtöpfe gegriffen hatten.

„Je mehr ich in die Akten schaute, desto mehr Ungereimtheiten stießen mir auf“, sagt Friedhelm Brors. Der Personalmitarbeiter, der sich 2002 der Sache von Weber annahm, entdeckte bei seinen Nachforschungen ein ganzes Geflecht von Fälschungen.

Als er feststellte, dass Weber kein Einzelfall war, sondern möglicherweise hunderte von Kollegen in der Rente schlechter gestellt wurden, wandte er sich direkt an Ulrich Scholten. Grob fahrlässig sei das Verhalten, schimpfte Brors und forderte eine schnelle Korrektur. Die kam aber nicht. Brors: „Stattdessen hat mir Scholten gesagt, dass ich die Dinge klären könne, wenn ich wolle. Als ich das versuchte, wurde ich kalt gestellt.“

Es sei jedenfalls ein seltsamer Zufall gewesen, dass ihm anschließend das Aufgabengebiet schleichend entzogen wurde, sagt Brors. Danach tat er praktisch gar nichts mehr, wurde aber bezahlt. „Wahrscheinlich, damit ich eben nichts anderes tat“, sagt Brors. „Ich hatte nicht einmal mehr eine Arbeitsplatzbeschreibung.“

2011 ging Brors selbst in Rente. Doch sein Gewissen ließ ihn nicht ruhen. Immer mehr einstige Kollegen meldeten sich bei ihm, weil sie nicht verstanden, was mit ihren Rentenbezügen geschehen war. Brors wurde Aktivist für die Geschädigten. Doch ganz gleich an wen er sich auch wandte – an seinen einstigen Arbeitgeber, an die Politik, an die Gewerkschaft – niemand fühlte sich zuständig.


Auch die IG-Metall lässt die Rentner hängen

Anfang 2015 konnte sich die IG-Metall wenigstens zu einer Veranstaltung durchringen. Am 22. Januar 2015 empfahl sie im HKM-Werk in Duisburg den rund 100 angereisten Ruheständlern, Widerspruch gegen das Einfrieren ihrer Betriebsrenten einzulegen. Harald Weber tat dies umgehend. Geändert hat sich nichts.

Das bleibt wohl auch so. Die Gewerkschaft jedenfalls will sich nicht zu konstruierten Verträgen bei der ehemaligen Mannesmann-Tochter äußern. „Die IG Metall hat die betroffenen Betriebsrentner in den Widerspruchsverfahren aktiv unterstützt und auch für die Klageverfahren Rechtsschutz erteilt“, teilt die IG Metall auf Anfrage des Handelsblattes mit. „Da diese Verfahren teilweise noch anhängig sind, können wir derzeit keine weiteren Auskünfte hierüber erteilen.“

Die Gewerkschaft schweigt, Mannesmann und HKM sehen sich nicht mehr zuständig. Das Arbeitsamt hat die Unterlagen weggeworfen. Und die Politik? Im Juni 2016 und im Januar 2017 stellte die Piratenpartei im Landtag von Nordrhein-Westfalen Anfragen zu den konstruierten Verträgen. Die Antwort fiel erstaunlich aus. Es handelt sich bei dem „Transferieren von Arbeitnehmern nicht um eine Manipulation“ erklärte Arbeitsminister Rainer Schmeltzer, sondern um eine „gewollte sozialpolitische Maßnahme des Gesetzgebers“.

Argumentiert wurde mit dem sogenannten Stellvertreterprinzip. Dies besagt unter anderem, dass Arbeitnehmer, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, durch Jüngere ersetzt werden können. Auch innerhalb der Gesamtheit der Betriebsteile kann das Stellvertreterprinzip angewandt werden.

Allein der Fall Weber jedoch widerspricht dem Stellvertreterprinzip. So sollte Webers Stelle ersatzlos gestrichen werden. Außerdem konnte Weber nicht durch einen jüngeren HKM-Mitarbeiter ersetzt werden, da er dort niemals beschäftigt war.

Alle Beteiligten scheinen ihren Frieden mit dem fingierten Stellenabbau gemacht zu haben. Nur die betroffenen Rohrwerker nicht. Am 14. Mai wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Oberbürgermeister Scholten wird dann auch um die Stimmen von Harald Weber und Friedhelm Brors und ihren Kollegen werben. Bekommen wird er sie nicht.

*Name von der Redaktion geändert

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