




Der zu früh verstorbene US-Autor David Foster Wallace erzählte vor zehn Jahren diese kleine Geschichte: Zwei junge Fische schwimmen im Ozean, als sie einem älteren Fisch begegnen. „Morgen, Jungs“, begrüßt der die beiden, „wie ist heute so das Wasser?“ Die beiden jungen Fische schwimmen eine Weile stumm weiter, dann sagt der eine zum anderen: „Was, zum Teufel, ist Wasser?“
Lässt man aus journalistischer Sicht das zu Ende gehende Jahr Revue passieren, begegnet einem diese Frage überall. Wir leben nicht im Wasser, aber in einer uns alle umfassenden Wirklichkeit, von der viele bislang dachten, man wisse zumindest in groben Zügen, wie sie beschaffen ist. Zum Ende des Jahres 2015 hat man den Eindruck, mit diesem gemeinsamen Verständnis könne es ein wenig vorbei sein. Die Verständigung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist an vielen Stellen auf den kleinsten Nenner des Dafür oder Dagegen reduziert, und oft genug erntet man im übertragenen Sinne auf eine Frage nur eine wütende Rückfrage: „Was, zum Teufel, ist Wirklichkeit?“





Das geht auch an uns Medien. Der erste Teil des Jahres war von der Griechenlandkrise bestimmt, als hätte sich die Flüchtlingsfrage noch gar nicht gestellt. Sie war dann ab dem Spätsommer zweites bestimmendes Thema des Jahres, als hätte es nicht längst genug über den Terror des sogenannten „Islamischen Staats“ zu berichten gegeben. Aber erst die Terroranschläge von Paris haben ihn wiederum zum dominierenden Thema gemacht. Medien wollen und sollen Akzente setzen. Sie können nicht alles gleich gewichten. Aber so entsteht gelegentlich das Zerrbild einer Welt, die von einer monothematischen Krise in die nächste stürzt.
Doch die Sache ist komplizierter. Wer an einem Tag verschiedene Zeitungen und Magazine liest, stellt fest: die Einschätzungen und Positionen zu Euro-Krise, Flüchtlingsfrage oder islamischem Terror unterscheiden sich zum Teil gewaltig. In Teilen des Internets ist das anders. Dessen Empörungswogen unterspülen inzwischen gefährlich unser gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit. Wer sich allein über das Internet informiert, kann es sich in seiner eigenen Echokammer bequem machen. Es schallt ja immer genauso zurück, wie ich hineinrufe. Abweichende Meinungen? Sich in seinen Positionen herausfordern lassen? Wozu? Die Bewohner der vielen Echokammern im Internet glauben die Wirklichkeit auf ihrer Seite, und die Medien sind auf der dunklen Seite. Lügenpresse also.
Verloren geht so ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit. Ohne ein solches ist eine demokratische Gesellschaft aber nicht lebensfähig. Geben Sie doch einmal „Deutschland ist“ in die Suchmaske von Google ein. Die Suchmaschine schlägt Ihnen dann das vor, was am häufigsten geschrieben wird. An erster Stelle: „Deutschland ist am Ende“, an zweiter: „Deutschland ist verloren.“ Das ist ein trauriges Ergebnis für ein Land, das in vielen Teilen der Welt um seinen Erfolg, seine wirtschaftliche Kraft, seine Exportstärke, seine industriellen und technischen Fertigkeiten und seine soziale Marktwirtschaft beneidet wird.
Es gibt bei Google noch eine dritte Antwort. Sie lautet: „Deutschland ist schön.“ Es könnte für 2016 eine lohnende gemeinsame Anstrengung sein, das Land aus abseitigen Stromschnellen wieder in ruhigere Gewässer zu lenken.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und alles Gute für 2016!