Einblick

Rückkehr des politischen Wettbewerbs

Widerspruch ist Lebensgeist der Demokratie. Brexit, Trump und die Rechten haben ihn geweckt. Das ist gut gegen die große Erstarrung.

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So geht Bundespräsident
Präsidenten und Paläste kennt Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
Das Amt:Das Staatsoberhaupt ist das einzige Verfassungsorgan, das nur aus einem einzigen Menschen besteht - deshalb wird es auch so stark vom jeweiligen Amtsinhaber und seiner Persönlichkeit geprägt. Der Präsident verkörpere „die Einheit des Staates“, formulierte 2014 das Bundesverfassungsgericht. Die Autorität und Würde des Amtes kämen gerade darin zum Ausdruck, „dass es auf vor allem geistig-moralische Wirkung angelegt ist“. Die formalen Anforderungen: Deutscher Bürger mit Wahlrecht zum Bundestag, mindestens 40 Jahre alt. Und nebenbei ein anderer Job oder zum Beispiel ein Aufsichtsratsposten sind tabu.ARCHIV - Bundespräsident Joachim Gauck (l) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) unterhalten sich am 11.01.2016 im Schloss Bellevue in Berlin während des Neujahrsempfangs für das Diplomatische Korps. (zu dpa "Schloss, Standarte, Salär - So geht Präsident" vom 11.02.2017) Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa
Die Routine-Aufgaben:Zum Präsidenten-Alltag gehört, Bundesgesetze per Unterschrift auszufertigen und sie auch auf Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Über den Schreibtisch im Bellevue gehen Ernennungen und Entlassungen von Bundesrichtern, Bundesbeamten und Offizieren. Regelmäßig ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der Regierung deutsche Botschafter im Ausland und nimmt Beglaubigungsschreiben neuer Botschafter in Berlin entgegen - die kommen dafür eigens in einem Präsidentenwagen samt kleiner Motorradeskorte ins Schloss. Quelle: dpa
Die besonderen Aufgaben: Seine einstigen Kabinettskollegen könnte Steinmeier Ende des Jahres bei einem herausgehobenen Termin wiedersehen. Wenn er nach der Bundestagswahl als neuer Präsident die alten Minister entlässt - und dann die künftige Regierung ernennt. Eher selten passiert es auch, dass das Staatsoberhaupt Begnadigungen ausspricht, möglich ist dies etwa für Spione und Terroristen. Beim Tod besonders verdienter Persönlichkeiten entscheidet der Präsident, ob er einen feierlichen Staatsakt, wie etwa beim verstorbenen Altbundespräsidenten Roman Herzog oder ein Staatsbegräbnis anordnet. Quelle: dpa
Die übergreifenden Aufgaben:Aus tagespolitischen Fragen hält sich der Präsident in aller Regel heraus. Damit, was er mit welchen Worten sagt, wohin er reist und wen er empfängt, setzt er trotzdem Akzente. Das zählt zur „Staatspflege“, die in die Gesellschaft ausstrahlen soll. Kleinere Gesten gehören ebenfalls dazu: Jeder Präsident entscheidet für seine Amtszeit, ob er Schirmherrschaften übernimmt. Glückwunschpost aus dem Bellevue bekommen Bürger, die ihren 100. Geburtstag oder 65. Hochzeitstag feiern können. Für siebte Kinder einer Familie übernimmt das Staatsoberhaupt eine Ehrenpatenschaft. Und verleiht auch verschiedene staatliche Orden und Auszeichnungen. Quelle: dpa
Das Schloss:Seit 1994 ist Schloss Bellevue - keine zwei Kilometer vom Kanzleramt entfernt - erster Amtssitz des Präsidenten. Der Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Bau mit Park hat 14 repräsentative Räume. Darunter sind das Amtszimmer und der Große Saal mit Platz für Staatsbankette mit mehr als 100 Gästen. Die rund 180 Mitarbeiter des Präsidialamts arbeiten in einem separaten Neubau. Ist der Hausherr da oder im Inland unterwegs, weht auf dem Schlossdach seine offizielle Standarte. Bei Auslandsreisen wird sie mit dem Abflug eingeholt und gleich nach Landung der Maschine wieder gehisst. Zweiter Amtssitz des Präsidenten ist daneben noch die Villa Hammerschmidt in Bonn. Quelle: dpa
Das Leben:Ins Bellevue einziehen würde auch Steinmeier nicht. Als einziger wohnte Roman Herzog von 1994 bis 1999 im Schloss. Die Räume wurden umgebaut, für Präsidenten und Familie gibt es eine Dienstvilla im Südwesten Berlins. Eine Parteimitgliedschaft lässt der Präsident traditionell ruhen. Kann er nicht arbeiten, weil er schwer krank oder im Urlaub ist, stünde der Bundesratspräsident als Vertreter für dringende Amtsgeschäfte parat. Das Salär des Staatsoberhaupts wird im Bundeshaushalt festgelegt, es beträgt aktuell 227.000 Euro. Ihr Geld bekommen Präsidenten nach Ende der Amtszeit weiter - als Ruhebezüge. Quelle: dpa

Die Rede des soeben gewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hat bei mir eine Antireaktion ausgelöst. Ich möchte nicht zusammenhalten, sondern mich auseinandersetzen, nicht Ruhe bewahren, sondern laut und deutlich für meine Überzeugungen eintreten. Ich möchte auch nicht mit Kitt an der Gesellschaft herumwerkeln, sondern lieber darüber nachdenken, wie man die Bodenkacheln so verlegt, dass sie tragen. Diejenigen, die leichtfüßig darüber gehen, aber auch die, die mal stolpern.

Am Ende sagte Steinmeier: „Lasst uns mutig sein! Dann jedenfalls ist mir um die Zukunft nicht bange.“ Er hätte auch sagen können: Lasst uns etwas trinken. Dann haben wir in Zukunft keinen Durst.

Das ist – zugegeben – etwas gemein. Und doch auch nicht. Seit Jahren wird in der westlichen Welt, Deutschland voran, das Desinteresse am Politischen beklagt. Und jetzt, wo sich endlich wieder unterschiedliche Positionen und Konfrontationslinien zeigen, will man sie schnell zuschmieren. Warum denn eigentlich? Ich kann das ewige Gerede von der Geschlossenheit nicht mehr hören. Geschlossenheit ist ein demokratisches Missverständnis. Eine Ausrede für autoritäre Erwartung an Folgsamkeit. Seit Ende des Kalten Krieges, durch den die Abgrenzungsmöglichkeit der Deutschen gegenüber den undemokratischen Systemen des früheren Ostblocks entfallen ist, hat sich ein Übermaß an Geschlossenheit angestaut. Bis vor Kurzem war überall die Mitte, sie hatte unterschiedliche Namen und meinte doch immer dasselbe.

„Wir haben einen Bundespräsidenten, der die ostdeutschen Probleme kennt“
Angela Merkel:Die Wahl des früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten ist nach Ansicht von Kanzlerin Merkel eine gute Entscheidung für Deutschland. "Ich bin überzeugt, er wird ein hervorragender Bundespräsident für unser Land sein", sagte die CDU-Vorsitzende. Steinmeier habe auch in schwierigen Zeiten Fingerspitzengefühl gezeigt sowie die Fähigkeit, über Parteigrenzen hinweg Kompromisse zu schließen und die Sorgen der Menschen aufzunehmen. "Ich traue ihm zu, dass er unser Land durch diese schwierigen Zeiten in seiner Funktion sehr gut begleiten wird." Sie setze auf eine gute Zusammenarbeit mit ihm - als Kanzlerin und als CDU-Vorsitzende. Quelle: dpa
Dietmar WoidkeMit Steinmeier hat Deutschland aus Sicht von Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) einen „Bundespräsidenten mit großem diplomatischen Geschick“ bekommen. Steinmeier werde den Bürgern in unübersichtlichen Zeiten Orientierung geben. Steinmeier sei genau der richtige Mann dafür, „weil eine besonnene, gelassene und erfahrene Persönlichkeit wie er, Deutschland gerade in diesen krisenhaften Jahren gut tut“, meinte Woidke. Quelle: dpa
Horst SeehoferCSU-Chef Horst Seehofer hat die Wahl Steinmeiers zum neuen Bundespräsidenten begrüßt. Der CSU sei es darauf angekommen, dass der Nachfolger Joachim Gaucks mit der gleichen Qualität sein Amt ausüben werde, sagte Seehofer. „Das wird bei Frank-Walter Steinmeier der Fall sein.“ Seehofer verteidigte erneut die Entscheidung für den ehemaligen Außenminister von der SPD als gemeinsamen Kandidaten der großen Koalition. „Wir hatten keine eigenen Kandidaten, der zugestimmt hat, und einen Grünen wollte ich persönlich nicht.“ Bei der Wahl sei es nun darauf angekommen, das der SPD gegebene Wort auch einzuhalten. Quelle: dpa
Reiner HaseloffSachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hält Steinmeier für eine glückliche Wahl. „Wir haben einen guten Bundespräsidenten bekommen, der die ostdeutschen Probleme kennt“, sagte Haseloff. Der Ministerpräsident gratulierte dem ehemaligen Außenminister kurz nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse im Reichstagsgebäude in Berlin. „'Vergessen Sie den Osten nicht', habe ich ihm dabei gesagt“, erklärte Haseloff. Quelle: dpa
Jogi LöwFußball-Bundestrainer Jogi Löw hat Steinmeier dazu eingeladen, die Nationalmannschaft bei einem der nächsten Spiele in der Kabine zu besuchen. „Er ist jederzeit herzlich willkommen“, sagte er Wahl Steinmeiers in der Bundesversammlung. Löw war von den Grünen als Delegierter nominiert worden. Er begrüßte die Wahl Steinmeiers. „Ich glaube, er steht für viele gute Werte, und ich glaube, er wird dieses Amt hervorragend bekleiden.“ Der Bundestrainer lobte vor allem die Ehrlichkeit, Offenheit und Toleranz Steinmeiers. Quelle: REUTERS
Jean-Marc Ayrault„Glückwunsch an meinen Freund & neuen BPräs FW Steinmeier. Mein vollstes Vertrauen in seinen Beitrag zur Einheit der EU & dt-frz Freundschaft.“ „Félicitations à mon ami FW Steinmeier élu Président All. Toute ma confiance pour contribuer à l'unité de l'UE et à l'amitié entre nos 2 pays“ Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault gratuliert Steinmeier in zwei Tweets auf Deutsch und Französisch. Quelle: AP
Andrzej Duda„Serdeczne gratulacje dla nowego Prezydenta RFN, Franka-Waltera Steinmeiera! Herzlichen Glückwunsch, Herr Bundespräsident!“ Der polnische Präsident Andrzej Duda gratulierte Steinmeier am Sonntag zweisprachig auf Twitter. Quelle: REUTERS

Das hat unserer Demokratie und Gesellschaft nicht gutgetan. Wenn alle in der Mitte abhängen, ist an den Rändern viel Platz. Und es wird jemand kommen, der sich diesen Platz nimmt. Das geschieht nun in vielen europäischen Ländern, und schon wieder gibt es viel Gejammer. Dabei war das absehbar. Einstimmigkeit war Normalfall. Die Konsensdemokratie hatte das Monopol auf staatliche Organisation. Das treibt den Wert des Widerstands nach oben und macht ihn attraktiv. Entfallen die politischen Unterschiede, so ist das kein Zeichen demokratischer Reife, sondern erstes Anzeichen für Verfall.

Donald Trump beschädigt die amerikanische Demokratie? Warten wir doch mal ab. Im Moment kommt Amerika in Bewegung, Richter sprechen Recht auf Basis der Verfassung, und Hunderttausende demonstrieren auf den Straßen. Der Brexit schadet der EU und dem Binnenmarkt? Abwarten. Er könnte ihr auch neuen Schwung im Angesicht des Abgrunds verleihen.

Es kehrt der politische Wettbewerb zurück, den wir dringend brauchen. Bei allen drei Landtagswahlen 2016 ist die Wahlbeteiligung kräftig angestiegen. Im Büro, in der Familie und beim Sport wird wieder über Politik diskutiert. Das ist großartig. Und die so sichtbaren Differenzen müssen ausgefochten und bloß nicht mit sozialem Kitt zugekleistert werden. Mutig ist es, zuzulassen, dass eine Gesellschaft den Wettbewerb der Positionen aushält. Mutig und selbstbewusst.

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