




Die Rede des soeben gewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hat bei mir eine Antireaktion ausgelöst. Ich möchte nicht zusammenhalten, sondern mich auseinandersetzen, nicht Ruhe bewahren, sondern laut und deutlich für meine Überzeugungen eintreten. Ich möchte auch nicht mit Kitt an der Gesellschaft herumwerkeln, sondern lieber darüber nachdenken, wie man die Bodenkacheln so verlegt, dass sie tragen. Diejenigen, die leichtfüßig darüber gehen, aber auch die, die mal stolpern.
Am Ende sagte Steinmeier: „Lasst uns mutig sein! Dann jedenfalls ist mir um die Zukunft nicht bange.“ Er hätte auch sagen können: Lasst uns etwas trinken. Dann haben wir in Zukunft keinen Durst.
Das ist – zugegeben – etwas gemein. Und doch auch nicht. Seit Jahren wird in der westlichen Welt, Deutschland voran, das Desinteresse am Politischen beklagt. Und jetzt, wo sich endlich wieder unterschiedliche Positionen und Konfrontationslinien zeigen, will man sie schnell zuschmieren. Warum denn eigentlich? Ich kann das ewige Gerede von der Geschlossenheit nicht mehr hören. Geschlossenheit ist ein demokratisches Missverständnis. Eine Ausrede für autoritäre Erwartung an Folgsamkeit. Seit Ende des Kalten Krieges, durch den die Abgrenzungsmöglichkeit der Deutschen gegenüber den undemokratischen Systemen des früheren Ostblocks entfallen ist, hat sich ein Übermaß an Geschlossenheit angestaut. Bis vor Kurzem war überall die Mitte, sie hatte unterschiedliche Namen und meinte doch immer dasselbe.





Das hat unserer Demokratie und Gesellschaft nicht gutgetan. Wenn alle in der Mitte abhängen, ist an den Rändern viel Platz. Und es wird jemand kommen, der sich diesen Platz nimmt. Das geschieht nun in vielen europäischen Ländern, und schon wieder gibt es viel Gejammer. Dabei war das absehbar. Einstimmigkeit war Normalfall. Die Konsensdemokratie hatte das Monopol auf staatliche Organisation. Das treibt den Wert des Widerstands nach oben und macht ihn attraktiv. Entfallen die politischen Unterschiede, so ist das kein Zeichen demokratischer Reife, sondern erstes Anzeichen für Verfall.
Donald Trump beschädigt die amerikanische Demokratie? Warten wir doch mal ab. Im Moment kommt Amerika in Bewegung, Richter sprechen Recht auf Basis der Verfassung, und Hunderttausende demonstrieren auf den Straßen. Der Brexit schadet der EU und dem Binnenmarkt? Abwarten. Er könnte ihr auch neuen Schwung im Angesicht des Abgrunds verleihen.
Es kehrt der politische Wettbewerb zurück, den wir dringend brauchen. Bei allen drei Landtagswahlen 2016 ist die Wahlbeteiligung kräftig angestiegen. Im Büro, in der Familie und beim Sport wird wieder über Politik diskutiert. Das ist großartig. Und die so sichtbaren Differenzen müssen ausgefochten und bloß nicht mit sozialem Kitt zugekleistert werden. Mutig ist es, zuzulassen, dass eine Gesellschaft den Wettbewerb der Positionen aushält. Mutig und selbstbewusst.