Einblick

Rückwärts, Genossen

Die Agenda 2010 zu reformieren ist sinnvoll – Martin Schulz sollte das aber der Zukunft zugewandt machen, nicht der Vergangenheit.

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Martin-Schulz Quelle: REUTERS

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: So beginnt ein Artikel in der ersten Ausgabe des „Vorwärts“, Parteiorgan der SPD, vom 1. Oktober 1876. Es geht darin natürlich nicht um die Agenda 2010, aber auch die trägt Früchte, an denen man einiges erkennen könnte.

Es sind die Früchte einer mutigen Reform, in denen der derzeitige Glanz der deutschen Wirtschaft gereift ist. Die Arbeitslosigkeit? Auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Wachstum? 2016 das höchste seit fünf Jahren. Exportleistung? So gut, dass sie zunehmend Frust und Wut aus anderen Teilen Europas und den USA auf sich zieht. Das Ausland erkennt mit Respekt und Missgunst an, wie aus dem „kranken Mann Europas“ wieder eine wirtschaftliche Kraftzentrale der Welt geworden ist. Mensch, da hat der Gerhard was gerissen, könnte man sagen. Sagt in der SPD aber kaum einer. Die Partei hat immer so getan, als seien die Reformerfolge Fallobst, von dem sie erschlagen würde.

Martin Schulz, amtierender Kanzlerkandidat und Hoffnungsträger der Sozialdemokraten, führt den Wahlkampf nun zurück in die Vergangenheit. Für Nostalgiker und Gestrige mag das eine Option sein. Alle anderen müssen sich Sorgen um die Klarsicht einer Partei machen, die angetreten ist, den nächsten Bundeskanzler zu stellen.

Es war einmal die Regel, dass man eine Lebenszeitstelle hatte. Das ist längst nicht mehr so. Menschen und Arbeitsplätze sind mobiler geworden. Damit müssen die Arbeitnehmer ebenso umgehen wie die Unternehmen. Flexibel auf Veränderungen am Markt und in der Geschäftsstrategie reagieren zu können ist ein Hauptgrund für befristete Arbeitsverhältnisse, die Schulz nun beschneiden will.

Ein Riesenerfolg der Agenda 2010 liegt darin, Arbeitslose schneller wieder in Jobs zu vermitteln. Längeres Arbeitslosengeld bedeutet längere Arbeitslosigkeit zeigen viele Studien. Der geplante Rückdreh bewirkt also das Gegenteil dessen, was die SPD erreichen möchte. Er beflügelt womöglich gar die Vorstellung, man könne sich mit entsprechendem Sicherheitsnetz immer früher vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Angesicht der demografischen Entwicklung in Deutschland ein gefährlicher Fehlanreiz.

Im Jahr 2017 gibt es durchaus Spielraum für Veränderung. Aber doch nicht so. Martin Schulz hat gesagt, es sei nicht ehrenrührig, Fehler zu machen. Recht hat er. Immer wieder denselben Fehler zu machen ist aber mindestens mal wenig überzeugend. Wer Menschen durch Arbeit absichern und gleichzeitig die deutsche Wirtschaft voranbringen will, muss da investieren, wo die Zukunft liegt: in die Köpfe der Deutschen. Die Agenda in diese Richtung zu erweitern wäre nach vorne gerichtete Arbeitsmarktpolitik und übrigens eine echte Investition in soziale Gerechtigkeit. Die SPD geht ihre Wirtschaftspolitik an nach dem Motto „Rückwärts, Genossen!“. An ihren Früchten will sie nicht erkannt werden.

Der langjährige Chef der Wirtschaftsweisen kritisiert den "demonstrativen Linksruck" des SPD-Kanzlerkandidaten, hält die Agenda 2010 insgesamt für einen Erfolg - und fordert ganz andere Reformschritte als Martin Schulz.
von Bert Losse
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