




Der Engel der Geschichte blickt zurück und schaut auf die Trümmer vergangener Zeit. Er würde so gerne die Verwüstungen heilen, doch aus dem Paradies weht ein Sturm, der sich in seinen Flügeln verfängt. „Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Mit dieser Metapher hat der deutsche Philosoph Walter Benjamin 1940 beschrieben, dass es zwischen Vergangenheit und Zukunft einen klugen Vermittler braucht.
Nicht den Zufall und nicht allein die Zeitläufte, sondern einen, der etwas gelernt, ja verstanden hat und es auf das Kommende anzuwenden weiß. Was hat der Engel nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht? Er hat sich aufgerafft, die Flügel gestrafft und den Wiederaufbau gewagt. Was hat er getan als der Kalte Krieg vorbei war? Er ist an der Grenze zwischen Ost und West gewandert, hat mal hier-, mal dorthin geschaut, oft unsicher, wo Zukunft und wo Vergangenheit ist.
Es war ein Sturm der Hoffnung, der dem Engel damals die Flügel zerzauste und ihn weit zu tragen schien. Jetzt schaut der Engel der Geschichte auf Syrien.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Er sieht ein Land in Trümmern. Er sieht 250.000 tote Syrer. Er sieht zwölf Millionen Menschen auf der Flucht. Er sieht ein Volk, dessen Lebenserwartung in den vergangenen vier Jahren um 20 Jahre dezimiert worden ist. Aus dem „Rendezvous mit der Globalisierung“, wie Wolfgang Schäuble es genannt hat, ist eine blutige und zerstörerische Begegnung geworden. Was noch vor Kurzem als Polyamorie einst gegnerischer Systeme mit globaler Zugewinngemeinschaft greifbar schien, ist zur militarisierten Gütertrennung zulasten von Wohlstand und Wachstum geworden.
Syrien ist das Armageddon
Syrien, das ist das Armageddon einer komplett aus den Fugen geratenen Geopolitik. Das Land ist nur noch Spielball weltpolitischer Interessen. Der russische Ministerpräsident Dimitri Medwedew spricht wieder vom Kalten Krieg. Das ist kein Zynismus und trotzdem falsch. Der Kalte Krieg war überschaubar gegenüber der jetzigen weltpolitischen Lage: West gegen Ost. Jedes Land wusste, wo es hingehört.
Die Achsen der neuen Machtkonstellationen verlaufen changierend. Zwischen den USA und Syrien, zwischen Saudi-Arabien und Iran, zwischen Russland und der Türkei. Die letztgenannte ist die, über die wir uns am meisten Sorgen machen müssen. Ist es unvorstellbar, dass russische Truppen über die türkische Grenze gehen? Nein, das ist es nicht.
Die Blaupause haben wir mit der Ukraine auf dem Tisch liegen. Und dann? Dann wäre das womöglich der Nato-Bündnisfall. Und dann ist die Welt wirklich eine andere. Wo ist er hin, der Engel der Geschichte? Er steht an der Grenze zu Syrien, im Blick das zerstörte Land und die Trümmer der Globalisierung.
Aber er spürt keinen Wind des Fortschritts im Rücken. Und wenn er sich umdreht, sieht er die Trümmer Europas. Die Reste einer Union, zerstritten und handlungsunfähig. Der Engel wird künftig an jeder Landesgrenze wieder seinen Pass zeigen müssen und nur mühsam vorankommen.
Der Sturm, der von diesem Europa ausgeht, bedeutet, dass es keine Lehren aus der Geschichte gibt. Er ist nicht der Fortschritt, sondern Böe in die Vergangenheit.