An einem Moment drohte die Stimmung in der kurzen Pressekonferenz der Parteichefs zur Grundrenten-Einigung doch noch zu kippen: CSU-Chef Markus Söder lobte das Erdbeer-Eis im Kanzleramt - und stellte dann fest, dass weder CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer noch die kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer davon gekostet hatten, weil beide gerade arbeiten mussten. „So ist das Leben. Die einen haben es verdient“, witzelte Söder und erntete dafür eher säuerliche Blicke seiner Kolleginnen. Aber ansonsten war im Kanzleramt die Zufriedenheit spürbar. Denn mit der Grundrenten-Einigung wurden aus Sicht von CDU, CSU und SPD gleich drei Dinge erreicht.
Zum einen beweise die große Koalition, dass sie doch noch handlungsfähig sei, betonte der CSU-Chef. Zum anderen haben die CDU-Chefin und CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus nach ihrer Auffassung einen Weg gefunden, mit dem die Risse innerhalb der Partei und Fraktion zu kitten sind. Und drittens freute sich Malu Dreyer, dass man die Halbzeitbilanz der Groko für die SPD mit dem Grundrententhema aufhübschen kann.
Erleichterung bei CDU und SPD
Die Grundrente war gerade von den Groko-Kritikern in der SPD als Bedingung für den Fortbestand der großen Koalition genannt worden – das hatte der Kandidat für die SPD-Parteispitze, Norbert Walter-Borjans, gerade nochmals betont. Die Einigung könnte nun also vor allem Vizekanzler Olaf Scholz im Rennen um den SPD-Vorsitz Rückenwind geben, der argumentiert, dass man in dieser Koalition durchaus wichtige sozialdemokratische Anliegen durchsetzen kann.
Auf CDU-Seite schöpfen Kramp-Karrenbauer und Brinkhaus Hoffnung, die Einigung nun auch durch die kritische Fraktion zu bekommen. Das liegt zum einen daran, dass die Prüfung erweitert wurde: Aus der Bedarfsprüfung ist eine „umfassende Einkommensprüfung“ geworden, bei der alle Kapitalerträge einberechnet werden. Statt der ursprünglich errechneten drei Millionen Berechtigten werden nun laut Dreyer bis zu 1,5 Millionen Niedrigverdiener mit 35 Beitragsjahren in der Rentenversicherung erreicht. Das reduziert die Kosten nach Angaben von Söder auf maximal 1,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Details der Vereinbarung vom Sonntag
Ende 2018 waren laut Statistischem Bundesamt gut 559.000 Menschen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen. Das sind gut drei Prozent aller im Rentenalter. Studien gehen davon aus, dass etwa dreimal so viele Ältere aufgrund ihres geringen Einkommens Anspruch auf Sozialhilfeleistungen hätten, diesen aus Scheu oder Scham aber nicht geltend machen. Um über die Runden zu kommen, benötigen Ältere derzeit laut Statistikamt rund 800 Euro monatlich für Lebenshaltung und ihre Wohnung.
Sie soll laut Vereinbarung der Spitzen von CDU, CSU und SPD „auch einen Beitrag zum Schutz vor Altersarmut leisten“. Wer gearbeitet hat, soll im Alter mehr haben als die Grundsicherung. Die Koalition will damit die Lebensleistung von Menschen anerkennen, „die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben“. Sie soll zum 1. Januar 2021 für Bestands- und Neurentner eingeführt werden.
Die Grundrente ist ein Zuschlag auf die Rentenansprüche von Geringverdienern, die 35 Beitragsjahre durch Arbeit, Kindererziehung oder Pflege aufweisen. Sie werden nahezu so gestellt, als ob sie in diesen 35 Jahren für 80 Prozent eines Durchschnittslohns gearbeitet hätten. Im Detail sieht das so aus: Ihre Beiträge an die Rentenkasse müssen zwischen 30 und 80 Prozent der Zahlungen eines Durchschnittsverdieners liegen. Ihr Rentenanspruch wird dann für 35 Jahre verdoppelt, höchstens aber auf 80 Prozent der Rente, die ein Durchschnittsverdiener in diesen Jahren erwirbt. Von dem Rentenzuschlag werden noch 12,5 Prozent abgezogen. Damit will die Koalition das sogenannte Äquivalenzprinzip hochhalten, wonach die Rente eigentlich von der Höhe der Beiträge abhängt.
Die Koalition will vermeiden, dass Menschen die Grundrente erhalten, obwohl ihr Auskommen durch andere Einnahmequellen gesichert ist. Bis zu einem monatlichen Einkommen von 1250 Euro für Alleinstehende und 1950 Euro für Paare wird die Grundrente in voller Höhe gezahlt. Zugrunde gelegt wird dabei „das zu versteuernde Einkommen unter Hinzurechnung des steuerfrei gestellten Anteils der Rente und aller Kapitalerträge“. In welcher Form die Auszahlungen von Lebensversicherungen berücksichtigt werden, soll während des Gesetzgebungsverfahrens geklärt werden. Die Grundrente soll unbürokratisch sein: Der Einkommensabgleich soll automatisiert durch einen elektronischen Datenaustausch zwischen der Rentenversicherung und den Finanzbehörden ermöglicht werden.
Beim Wohngeld wird ein Freibetrag im Volumen von etwa 80 Millionen Euro eingeführt, damit eine Verbesserung durch die Grundrente nicht durch eine Kürzung des Wohngeldes aufgehoben wird. Für Rentner mit 35 Beitragsjahren wird in der Grundsicherung ein Freibetrag eingeführt, bis zu dem Rentenzahlungen nicht von der Grundsicherung abgezogen werden. Ähnliches gibt es bereits für Einnahmen aus betrieblicher und privater Altersvorsorge. Der Freibetrag beträgt 100 Euro monatlich plus 30 Prozent der darüber hinausgehenden Rentenzahlungen - höchstens aber bis zur Hälfte des Grundsicherungs-Regelsatzes, derzeit also 212 Euro.
Die Kosten der Grundrente sowie für die Freibeträge in der Grundsicherung und beim Wohngeld „werden aus Steuern und ohne Beitragserhöhung in der Rentenversicherung finanziert“. Der Bundeszuschuss an die Rentenkasse werde „entsprechend erhöht“. Beziffert werden die Kosten nicht. CSU-Chef Markus Söder sprach von 1,1 bis 1,5 Milliarden Euro. Als wichtiger Beitrag dazu werde die „vereinbarte Finanztransaktionssteuer“ eingeführt.
Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung wird befristet bis 2022 auf 2,4 Prozent des Bruttolohns gesenkt. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden dadurch zusammen um jährlich etwa 1,2 Milliarden Euro entlastet. Der Beitrag war Anfang dieses Jahres bereits um 0,5 Punkte auf 2,5 Prozent verringert worden.
Zur Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, einigte sich die Koalition auf mehrere Maßnahmen:
1. Bezieher von Betriebsrenten oder von Kapitalleistungen der betrieblichen Vorsorge werden bei den Beitragszahlungen an die gesetzliche Krankenkasse entlastet. Sie müssen dafür bisher den vollen Beitragssatz von 14,6 Prozent plus Zusatzbeitrag entrichten, während für die Rente nur der halbe Beitragssatz fällig wird – wie für Beschäftigte im Arbeitsleben auch. Die Koalition will für solche Versorgungsbezüge nun einen Freibetrag von 155,75 Euro monatlich schaffen. Damit werde erreicht, dass rund 60 Prozent der Betriebsrentner „de facto maximal den halben Beitragssatz“ auf ihre gesamten Versorgungsbezüge zahlten, während die weiteren 40 Prozent „spürbar entlastet“ würden. Für die Krankenkassen bedeutet dies aber geringere Einnahmen in Höhe von etwa 1,2 Milliarden Euro jährlich. Dies soll „vollständig aus Mitteln“ der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. In den Jahren 2021 bis 2023 sollen dazu Beträge von jeweils 900, 600 und 300 Millionen Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds entnommen werden.
2. Für Arbeitgeber soll der Anreiz steigen, Beschäftigten mit einem monatlichen Bruttoarbeitslohn von höchstens 2200 Euro eine zusätzliche arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersversorgung anzubieten. Der dafür bisher gezahlte staatliche Zuschuss von bis zu 144 Euro soll auf bis zu 288 Euro verdoppelt werden.
3. Der steuerliche Freibetrag für Arbeitnehmerbeteiligungen am Betriebskapital soll von 360 Euro auf 720 Euro steigen.
Bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau wird ein „Beteiligungsfonds für Zukunftstechnologien“ aufwachsend bis zu zehn Milliarden Euro aufgelegt.
Zum anderen setzte die Union durch, dass die Beschlüsse der großen Koalition neben der Grundrente auch Konjunkturimpulse und eine Stärkung der privaten Altersversorgung enthalten. Zwar fällt die Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung bis Ende 2022 auf 2,4 Prozent und die Einrichtung eines neuen Investitionsfonds bei der KfW von bis zu zehn Milliarden Euro für Zukunftstechnologien, Klimaschutz und Digitalisierung eher bescheiden aus. Aber an einer Reihe kleiner Stellschrauben wurden auch Verbesserungen etwa für die Stärkung der Betriebsrenten erreicht.
Aufmerksam wurde in der CDU-Spitze deshalb das schnelle Lob des CSU-Wirtschaftspolitikers Hans Michelbach vermerkt, der als Stellvertreter der Mittelstandsvereinigung MIT ansonsten durchaus als Kritiker des Regierungskurses gilt. Er lobte die zwei Seiten des Pakets. „Außerdem ist die Stärkung der Betriebsrenten der beste Weg, Altersarmut besser zu bekämpfen“, sagte er Reuters.
CDU-Wirtschaftsflügel: „Das wird ja immer verrückter in Berlin“
Ob dieses Lob ausreicht, um die gesamte Kritik in der CDU verstummen zu lassen, galt aber auch am Sonntagabend in Unionskreisen als unsicher. Am Montagvormittag folgte nun die befürchtete Kritik aus Reihen der Union: Vom CDU-Wirtschaftsflügel kam massive Kritik an der Einigung zur Grundrente. Der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand der Unionsfraktion im Bundestag, Christian von Stetten, sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Die Parteivorsitzenden haben gestern im Koalitionsausschusses beschlossen, die getroffenen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zu brechen, um die Koalition über den SPD-Parteitag hinaus zu retten. Das wird ja immer verrückter in Berlin.“
Nichtsdestotrotz stimmte das CDU-Präsidium am Montag nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters dem Grundrenten-Kompromiss einstimmig zu.
Am zufriedensten sah am Sonntagabend CSU-Chef Söder aus, der nicht nur den größten Teil des Erdbeer-Eises im Koalitionsausschuss abbekam, sondern sich auch als Deal-Maker präsentierte. Er habe seinen Kollegen klar gemacht, dass er nun zum Koalitionsausschuss nach Bayern müsse – und da sei klar gewesen, dass er nicht mit leeren Händen kommen dürfe, sagte er angesichts des nur verhaltenen Optimismus, den Kanzlerin Angela Merkel noch am Freitag gezeigt hatte. Und dass er sich als der eigentlich starke Mann in der Runde fühlte, demonstrierte der CSU-Chef nicht nur damit, dass er Bemerkungen von Kramp-Karrenbauer stets ergänzte.
Das CSU-Präsidium stimmte am Montagvormittag dem Kompromiss zur Grundrente einstimmig zu. „Der Kompromiss ist fair und ausgewogen. Für die CSU ist die umfassende Einkommensprüfung wichtig“, schrieb Söder auf Twitter. Außerdem werde die Wirtschaft in gleicher Weise gestärkt. „Die Groko hat damit einen großen Schritt in Richtung Zukunft gemacht.“
Der mittlerweile auch als potenzieller Kanzlerkandidat gehandelte Söder betonte, dass nun eine Lösung gelungen sei, an der frühere Regierungen immer wieder gescheitert seien. Das war ein dezenter Hinweis, dass mit ihm als relativer Neuling in der Berliner Spitzenrunde ein anderer Wind weht. Diese Fähigkeit zur Kompromissfindung könnte allerdings auch die CDU-Chefin für sich reklamieren: Sie hatte in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ den Anstoß für ein Kombipaket zur Grundrente ins Spiel gebracht.