
Die Grenzöffnung vom Spätsommer 2015 war eine Chimäre. Ein Mischwesen aus humanitär begründeter Rettungstat und ökonomischer Wette. Regierungspolitiker, Manager und Ökonomen waren sich mit Hilfsorganisationen, Kirchen und einem großen Teil des Rests der Deutschen einig im Glauben an eine gigantische Win-Win-Situation für Deutschland: Man könne mit den Leidgeprüften aus Syrien und anderen zerfallenden Staatswesen gleichzeitig auch die Zukunftsaussichten der deutschen Volkswirtschaft retten.
Daimler-Chef Dieter Zetsche stellte „ein zweites Wirtschaftswunder“ in Aussicht und Deutsche Bank-Chefökonom David Folkerts-Landau glaubte, dass Deutschland durch die Neuankömmlinge „seinen Ruf als globales wirtschaftliches ‚Powerhaus‘“ festigen könne.
Die Bedingung dafür stand damals meist nur in den Fußnoten: dass die Ankömmlinge rasch integriert würden, worunter fast ausschließlich die Unterbringung auf dem Arbeitsmarkt verstanden wird.
Mittlerweile rückt diese Bedingung immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Zukunftsprojektionen werden pessimistischer. Selbst die von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sieht im höchst unwahrscheinlichen optimistischsten Szenario – alle Einwanderer haben nach zehn Jahren einen Job und fast 100 Prozent schaffen eine Berufsausbildung – nur ein leichtes Plus in der volkswirtschaftlichen Bilanz. Die wahrscheinlicheren mittleren und erst recht die pessimistischen Szenarien sehen große Belastungen für den Sozialstaat der kommenden Jahrzehnte.
Lehrreicher als die hypothetischen Glaskugel-Blicke in die Zukunft, mit denen der Berufsstand der Ökonomen allzu schnell bei der Hand ist, dürfte der Rückblick auf die bisherigen Erfahrungen mit der sozioökonomischen Integration von Zuwanderern sein. Der aktuelle Datenreport 2016 des Statistischen Bundesamtes befördert die ernüchternden Erkenntnisse darüber unmissverständlich zutage.
Er macht vor allem deutlich, dass Einwanderung nicht allein als statistische Zahl in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu begreifen ist. Auch in ökonomischer Perspektive sind sehr große und entscheidende Unterschiede zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen auszumachen. Das am meisten deprimierende Ergebnis ist, dass die große Gruppe der Türkischstämmigen verglichen nicht nur mit Einheimischen, sondern auch mit anderen Einwanderern besorgniserregend erfolglos bleibt.
Mehr als jeder dritte Einwohner türkischer Herkunft in Deutschland verdient weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Einwanderern vom Balkan oder aus Italien und bei deren Nachkommen, ist es nur ein Viertel. Umgekehrt schaffen es gerade fünf Prozent der Türkischstämmigen auf mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens, während das 21 Prozent der Osteuropäer, 18 Prozent der Südwesteuropäer und elf Prozent der Ex-Jugoslawen schaffen.
Aussiedler wirtschaftlich besser gestellt als Gastarbeiter
Der Ökonom Thomas Straubhaar, seit den 1990er Jahren in der Einwanderungsdiskussion in den Medien präsent, hält vor allem den Vergleich der Türkischstämmigen mit den aus Osteuropa eingewanderten deutschstämmigen Aussiedlern für erkenntnisbringend. Die seien zwar nicht ganz so erfolgreich wie die Deutschen ohne Migrationshintergrund, aber deutlich erfolgreicher als diejenigen mit türkischer Herkunft. Im Schnitt erreichen Aussiedler ein um 13 Prozent höheres Einkommen als Familien mit türkischer Herkunft. Deren Armutsrisiko sei um 10 Prozent höher. Kurz: „Aussiedler schaffen es deutlich öfter als Türken in Deutschland wirtschaftlich erfolgreich Fuß zu fassen.“
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Warum schaffen es eher die Aussiedler? Warum sind Türken und Türkischstämmige oft wenig erfolgreich? Für Straubhaar ist die Antwort klar: Die ersten waren sofort deutsche Staatsbürger, die Türken nicht. Sie würden, so Straubhaar „wie Gäste behandelt“. Und darum dürften sich die Einheimischen „nicht wundern, wenn sie sich auch wie Gäste verhalten.“
Doch erklärt diese Behauptung tatsächlich, was sie erklären will? Oder schiebt sie nicht in fragwürdiger Weise die Schuld für den mangelnden ökonomischen Erfolg der Eingewanderten auf die Einheimischen? Schließlich könnte man – ebenso unbelegt – behaupten: Wer sich wie ein Fremder benimmt, darf sich nicht wundern, wenn er wie ein Gast behandelt wird.
Straubhaar unterschätzt wohl den Realismus der einheimischen Deutschen. Die Erwartung, dass alle „Gastarbeiter“ wieder in ihre alte Heimat zurückkehren, wurde in Deutschland schon vor über 30 Jahren aufgegeben. Dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland sei und aus Gastarbeitern Mitbürger würden, war schon in den 1970er Jahren in den Zeitungen zu lesen. Schon 1973 konnte Theo Sommer in der „Zeit“ schreiben, dass es eine Lebenslüge sei, dies zu leugnen. Spätestens seit den 1980ern war es weitgehend Allgemeingut.
Indem Straubhaar den Misserfolg türkischer Zuwanderer auf die fehlende Staatsbürgerschaft schiebt, führt er die Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit in den späten 1990er fort. Auch damals erklärten viele die Verleihung der Staatsbürgerschaft, einen bürokratischen Akt, zum Schlüsselinstrument der Integration.
Sie offenbarten damit ihren Glauben an die „Utopie der Regeln“ (David Graeber), also an die erzieherische Allmacht und Allzuständigkeit des Staates in sozioökonomischen Fragen. Aus diesem Glauben ist eine Migrationsforschung erwachsen, die sich als Politikberatung versteht und allein schon deswegen jede Erklärung für ein Scheitern der Integration beim deutschen Staat finden zu können glaubt.
Straubhaar ignoriert in seiner Erklärung der schwachen wirtschaftlichen Performanz türkischer Einwanderer bewusst, dass das neue Staatsbürgerschaftsrecht die Hürden zur Einbürgerung extrem gesenkt hat. Für in Deutschland geborene Kinder von Einwanderern gibt es sie praktisch nicht mehr – es sei denn, sie bestehen auf der Staatsbürgerschaft des Herkunftslands ihrer Vorfahren.
Straubhaar ignoriert außerdem – wie das Gros der deutschen Migrationsforscher und Ökonomen -, dass auch in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, die schnellere Erlangung der Staatsangehörigkeit keinen erkennbaren Einfluss auf den ökonomischen Integrationserfolg der Einwanderer hatte. Die meisten Jugendlichen, die 2005 in den Banlieues randalierten, waren französische Bürger.
Entscheidend ist die kulturelle Nähe oder Distanz
Beim Staat sind wohl kaum die Ursachen dafür zu finden, warum neben den deutschstämmigen und daher sofort eingebürgerten Aussiedlern auch nicht unmittelbar eingebürgerte Einwanderer aus Italien oder Jugoslawen deutlich erfolgreicher im Arbeitsleben waren und sind als Türken und deren längst eingebürgerte Kinder und Enkel.
Für Politiker – als Herren über die Bürokratie – ist der Glaube an die integrative Allmacht des Staates, den sie regieren, nachvollziehbar. Realitätsnäher und wissenschaftlich tragfähiger wird er dadurch aber nicht.
Eine glaubhaftere Erklärung der Integrationsunterschiede findet man dagegen etwa beim Migrationssoziologen Ruud Koopmans. Er zeigt, was Ökonomen, die für nicht statistisch messbare oder aktenkundige Größen leider oft blind sind, nicht sehen: Die kulturelle Nähe oder Distanz spielt eine entscheidende Rolle. Je größer diese Distanz der Zugewanderten oder deren Nachkommen zur Mehrheitsgesellschaft ist, desto größer sind im Schnitt auch deren Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. „In allen europäischen Ländern liegen muslimische Immigranten bei fast allen Merkmalen der Integration hinter allen anderen Einwanderergruppen. Das gilt für den Arbeitsmarkt, aber auch für Bildungsergebnisse, für interethnische Kontakte, also solche mit der heimischen Bevölkerung, und die Identifikation mit dem Wohnland“, sagte Koopmans im WiWo-Interview. Kulturelle Assimilationsbereitschaft, so kurz gefasst seine These, ist die beste Voraussetzung für eine gelingende Integration.
Koopmans wurde lange von der Migrationsforschung in Deutschland und erst recht von den politischen Akteuren ignoriert oder gar angefeindet. Seine Ergebnisse sind schließlich unbequem für Politiker, da sie keine konfliktfreien Lösungen durch bürokratische Akte des Staates nahelegen. Kultur und religiöse Praxis von Menschen sind in einem freien Land dem direkten Zugriff des Staates schließlich mit gutem Grund entzogen.