Am Ende spannen die Richter die Hamburger Hafenwirtschaft ein letztes Mal auf die Folter. Die Planfeststellungsbeschlüsse für die Elbvertiefung, sie seien „rechtswidrig und nicht vollziehbar“, beginnen sie ihre Urteilsverkündung. Doch es folgt das große Aber: „Diese Mängel können geheilt werden“, die Beschlüssen behalten also ihre Gültigkeit. Für die Hamburger Wirtschaft heißt das: Noch ein paar Millionen für weitere Gutachten, die das Überleben der Pflanzenwelt an der Elbe dokumentieren, dann kommt die Vertiefung, auf die man hier so lange gewartet hat. Man hört die Korken schon knallen in diesem Satz.
Gut zehn Jahren zieht sich das Verfahren schon hin. Auf den ersten Blick erstaunlich, denn schließlich geht es nur um 100 Zentimeter zusätzliche Wassertiefe, zudem wird die Fahrrinne bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts regelmäßig ausgehoben, das letzte Mal Ende der Neunzigerjahre. Doch von Anfang an war klar, dass diese, die neunte Vertiefung anders werden würde. Denn mit jeder weiteren Schaufelfüllung, die den Strom für die Gebote der Globalisierung ertüchtigen sollte, wurde es schwieriger. Wurde die wirtschaftliche Begründung immer unklarer.
Die Vertiefung kommt – oder das Ende ist nah.
„Ich bin ja quasi auf der Elbe geboren“, sagt Frank Horch, den sie in Hamburg meist nur den Hafensenator nennen. Dass er für die Wirtschaft als Ganzes, für Verkehr und Innovation zuständig ist, wird gerne unterschlagen. Vielleicht, weil er eine Biografie vorzuweisen hat – Schifffahrtsingenieur, Präses der Handelskammer, Manager bei Blohm + Voss, noch dazu Segler –, die so makellos hanseatisch ist wie ein navyblauer Zweireiher mit Goldknöpfen.
Übertriebene Schätzungen
Was also würde aus Hamburg ohne Elbvertiefung? „Bei einem Stopp machen wir den Hafen nicht morgen zu“, sagt Horch nach kurzem Zögern. Aber dann holt er zu einer längeren Antwort aus, an deren Ende klar ist, was er eigentlich sagen will: Hamburg ist 800 Jahre lang mit Schifffahrt und Handel groß und wohlhabend worden – und ohne die Fahrrinnenanpassung würde diese Wachstumsgeschichte langsam enden.
150 000 Jobs im Großraum Hamburg wären bedroht, deutschlandweit gar eine halbe Million.
Was Horch aber nicht sagt, ist: Schon die Arbeitsplatzzahlen, mit denen die Verfechter der Elbvertiefung hantieren, sind umstritten. Denn zur Wahrheit gehört auch: Die Anzahl der Arbeitsplätze, die direkt am Containerumschlag hängen, ist nicht besonders groß. So beschäftigt die Hamburger Hafengesellschaft in Hamburg nur gut 3500 Mitarbeiter. Und diese Zahl hat sich in den vergangenen 15 Jahren kaum verändert, obwohl sich die Menge der umgeschlagenen Container verdoppelte. Die Schätzungen über die indirekten Arbeitsplatzeffekte sind derweil reichlich spekulativ.
Gewinner und Verlierer der Containerschifffahrt
Der Welthandel nahm einen enormen Aufschwung, nachdem sich der Container durchgesetzt hatte. Dazu brauchten die Reeder immer mehr und größere Schiffe – Südkorea und Japan bauten sie. Später kam auch China dazu. Diese drei Länder sind heute mit großem Abstand die bedeutendsten Schiffbauländer der Welt.
Weltweit sind fast 41.760 größere Handelsschiffe registriert, davon mehr als 5000 Containerschiffe. Sie transportieren jährlich rund 129 Millionen Standardcontainer (TEU) rund um die Welt. Mit den Transportleistungen vergrößerten sich die Häfen, vor allem in Asien. Unter den Top Ten der Weltrangliste ist kein europäischer und nur ein US-amerikanischer Hafen (Los Angeles).
Die Schiffe brachten immer günstigere Konsumgüter aus Asien nach Europa. Zunächst Haushaltsgeräte, Motorräder, Kameras und Spielsachen aus Japan, dann Fernseher und Unterhaltungselektronik aus Korea, Kleidung aus Pakistan, Mobiltelefone aus China. Und zuvor unbekannte Früchte und Pflanzen aus der gesamten Welt, Wein aus Chile oder Südafrika, Steaks aus Südamerika, Lämmer aus Neuseeland. Vielfalt, Qualität und Preiswürdigkeit des Warenangebotes für die Verbraucher in Europa und Nordamerika erhöhten sich deutlich.
Wegen schlechter Arbeitsbedingungen, überlanger Arbeitszeiten und unzureichender Bezahlung werden Arbeiter in Schwellenländern oft als Verlierer der Globalisierung angesehen. Doch das ist nur halb richtig. Tatsächlich hat die Integration in die Weltwirtschaft in vielen Ländern auch schlimmste Armut beseitigt und in Ländern wie Südkorea und Taiwan zu Wohlstand geführt. Auch China ist nach wie vor ein armes Land nach den Maßstäben der Industrienationen, aber es gibt eine wachsende Mittelklasse. Ähnlich ist es in Südamerika.
Nach dem Human Development Index der UN hat sich die Lebenserwartung, der Bildungsstand und das Pro-Kopf-Einkommen in nahezu allen Ländern verbessert - in den Entwicklungsländern mit mittlerem Einkommen zwischen 1975 und 2005 um etwa 32 Prozent, in den ärmsten Ländern um circa 22 Prozent. Vor 30 Jahren lebte die Hälfte der Menschheit von umgerechnet weniger als 1,25 Dollar am Tag, was als Grenze zur „absoluten Armut“ galt. Heute sind es noch 18 Prozent, obwohl die Erdbevölkerung seither um fast 60 Prozent gewachsen ist. Gleichzeitig steigt die Ungleichheit innerhalb der Länder.
Mit dem Aufschwung des Welthandels einher ging auch eine erhebliche Zunahme an Umweltbelastungen. Containerschiffe verbrennen Schweröl, das besonders viele Schadstoffe wie Schwefel, Stickoxiden und CO2 emittiert. Die Schifffahrtsverbände weisen zwar darauf hin, dass die Schifffahrt gemessen an anderen Verkehrsträgern besonders umweltfreundlich ist, weil sie eben so große Gütermengen transportiert und je beförderter Tonne weniger Schadstoffe verursacht als Lastwagen oder Flugzeuge.
Das ändert aber nichts daran, dass die Schifffahrt rund 800 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr ausstößt, nach Angaben des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR). Das entspricht zehn Prozent der Emissionen aller Verkehrsträger. In einigen Fahrtgebieten wurden die Grenzwerte von der Internationalen Schifffahrtsorganisation bereits verschärft, zum Beispiel an den Küsten Nordamerikas oder in Nord- und Ostsee. Weitere Verschärfungen stehen in den nächsten Jahren bevor.
Unter dem Konkurrenzdruck vor allem aus Asien sind ganze Industriebranchen aus Europa und den USA abgewandert und verschwunden. Dazu gehören die Fertigung von Kleidung, Unterhaltungselektronik und Massenprodukten aller Art, die in großen Mengen vor allem in China gefertigt werden. Unternehmen, die sich nicht anpassen konnten, sind untergegangen. Viele Arbeitnehmer in den Industrieländern verloren durch die Globalisierung ihre Arbeit. Durch die Konkurrenz von hunderten Millionen billiger Arbeitskräfte stehen die Arbeitsplätze in den westlichen Industrieländern unter einem Dauerdruck.
Die Globalisierung hat nicht nur Marken-Konsumartikel bis in den letzten Winkel der Erde verfügbar gemacht. Überall gibt es Coca-Cola, McDonald's und Levi's. Doch nicht nur der Konsum, auch die Produktion hat sich weltweit angeglichen und standardisiert. Angepasste regionale Produktionsmethoden wurden ersetzt durch hoch technisierte westliche Methoden. Kulturell vereinheitlichen sich Kleidung, Musik, Filme, Konsum und Sprache tendenziell weltweit zu einem westlichen „Lifestyle“.
Das allein wäre für einen Volkswirt wie Henning Vöpel, Direktor beim Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI), allerdings noch kein Grund, Investitionen in den Hafen skeptisch zu sehen. Aber: „Die Elbvertiefung lohnt auf Sicht der nächsten zehn Jahre. Langfristig aber braucht der Hafen ein ganz anderes Konzept“, sagt er und beruft sich auf eine Studie der Welthandelsorganisation WTO. Dass es überhaupt eine Nachfrage nach den neuen Riesenschiffen gibt, liegt allein an einem gnadenlosen Wettrennen zwischen den großen Reedereien der Welt. Obwohl die Menge der weltweit transportierten Container nicht zunimmt, werden die Schiffe immer größer, um die Kosten immer weiter nach unten zu drücken. Das heißt für die Hafenbetreiber: Sie müssen viel Geld in immer größere Verladeterminals investieren, um im besten Falle ihre Umsätze zu halten. „Die Bedeutung von Häfen ist immer relativ“, sagt Vöpel. „Wenn Reedereien sich für ein Hafendrehkreuz entscheiden, dann ist nicht unbedingt die absolute Umschlagmenge entscheidend, sondern die Position gegenüber konkurrierenden Häfen.“ Deshalb ist Vöpel sich mit dem Hafensenator Horch in der Analyse durchaus einig: Hätte man die Elbe an ihr altes Bett gefesselt, der Hafen würde gegenüber den beiden großen Konkurrenten Antwerpen und Rotterdam an Umschlag verlieren.
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Hamburgs Wohlstand jenseits des Hafens
Ein Abend im Hafen-Klub. Durch die Fenster sieht man auch bei dunklem Winterwetter die Lichter des Hafens. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz ist zu Gast. Neben ihm sitzt Angela Titzrath, die gerade erst ins Amt gekommene Vorstandsvorsitzende der HHLA. Sie gibt die Antwort der Wirtschaft: „Die Kunden“, sagt sie, „schauen sich den Hafen im europäischen Kontext an.“ Bloß: Da spricht ohnehin längst vieles gegen Hamburg. Der Hafen lag bis vor der Finanzkrise beim Containerumschlag noch deutlich vor Antwerpen. Mittlerweile liegen die Belgier nach Jahren kontinuierlichen Wachstums deutlich vor Hamburg auf dem europaweit zweiten Platz hinter Rotterdam. Aus Vöpels Sicht steht Hamburg daher heute vor einer Entscheidung zwischen langfristigen und kurzfristigen Zielen: „Die Elbvertiefung wird es dem Hafen ermöglichen, noch mal eine Dekade im Wettbewerb zu bestehen – danach aber wären die Einbrüche umso dramatischer.“
Um dieses Szenario zu verstehen, muss man den Hafen hinter sich lassen und dorthin gehen, wo Hamburg früher mal richtig schmuddelig war. Etwa an der Langen Reihe, wo Marc Schmitt sein Büro hat. Schmitt ist Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens Evertracker, er steht für eine andere Zahl, die ebenfalls zu Hamburg gehört: plus 23 Prozent. So stark ist das Bruttoinlandsprodukt der Stadt zwischen 2009 und 2015 gestiegen, also just in dem Zeitraum, als der Hafen den Anschluss an seine Konkurrenten verlor.
Heute werden in der Stadt mehr als 110 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaftet, und das liegt eben nicht nur an den dauerpiepsenden Containerschiebern südlich der Elbe, sondern auch an stillen Stars wie Marc Schmitt. Seine Idee: Jeder Container, Rollwagen oder womit sonst Unternehmen ihre Güter transportieren, wird mit einem GPS-Sender ausgestattet. Schmitts Software analysiert dann die Auslastung und Wegeführung dieses Transportmittels.
Ideenträger wie Schmitt gibt es viele in der Stadt, deren Sogkraft auf junge Talente locker mit Berlin und München mithalten kann. Sie zeigen, dass es nicht auf die Menge des Containerumschlags ankommt, um Mehrwert zu schaffen. Sondern auf die Art und Weise. Kurzfristig wird die Vertiefung der örtlichen Wirtschaft nützen, meint deshalb HWWI-Forscher Vöpel, schon allein durch die Investitionen von mindestens 650 Millionen Euro, die dafür nötig wären. Andererseits: „Hätte das Gericht die Vertiefung untersagt, für die Stadt wäre es langfristig vielleicht die bessere Entscheidung gewesen.“