Empörung nach Türkei-Urteil „Stärkung für den Erdogan-Staat“

Eine Richterin aus der Türkei klagt vor dem Menschenrechtsgerichtshof gegen ihre Entlassung und Verhaftung – und scheitert, weil sie den türkischen Rechtsweg nicht ausgeschöpft hat. Das sorgt für großen Unmut in Berlin.

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Gerichtssaal im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Frankreich): Ein umstrittenes Urteil gegen eine Richterin in der Türkei stößt auf Kritik. Quelle: dpa

Berlin Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) hat heftige Kritik aus Deutschland auf sich gezogen. Auslöser ist, dass der Gerichtshof am Donnerstag die Klage einer Richterin aus der Türkei zurückgewiesen hat, die nach dem Putschversuch dort entlassen und festgenommen worden war.  In der Begründung heißt es, die Frau müsse zunächst den Rechtsweg in ihrer Heimat voll ausschöpfen.

Der Unions-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, Roderich Kiesewetter (CDU), sagte dazu dem Handelsblatt, der EGMR möge „prozedural vielleicht Recht haben, solch ein Urteil sendet aber politisch genau das falsche Signal und stärkt neben den falschen Kräften den türkischen Erdogan-Staat, der auf dem Weg in einen Unrechtsstaat ist“. Er akzeptiere zwar die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, fügte Kiesewetter hinzu. Allerdings müsse man hier auch politisch argumentieren. Dort, wo der Rechtsstaat in EU-Partnerländern wie der Türkei ausgeschöpft sei, weil er nicht mehr existiere, gelte es die Prinzipien der UN-Menschenrechtskonvention und des Europarats anzuwenden.

„Deshalb geht meines Erachtens die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, falls diese so zutreffend ist, an der praktisch erlebten Wirklichkeit in der Türkei vorbei“, betonte der CDU-Politiker. „Hier sollte der Europäische Gerichtshof klare Signale senden und dem Ansinnen der türkischen Richterin in ihrer Not nachgeben und deutlich machen, dass es in der Türkei gegen politisch motivierte Entscheidungen des Staatsapparates keine rechtsstaatlich wirksamen Methoden mehr gibt.“

Es ist das erste Mal, dass sich der Menschenrechtsgerichtshof mit dem Putschversuch in der Türkei befasst hat. In dem konkreten Fall urteilten die Richter, dass die Klägerin zunächst vor das türkische Verfassungsgericht ziehen müsse, wie es in der Entscheidung vom Donnerstag heißt.

Die Richterin hatte in ihrer Beschwerde darauf verwiesen, dass auch zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts und Anwälte, die dort arbeiteten, festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden waren. Das Gericht könne deshalb nicht mehr unvoreingenommen entscheiden.

Der Menschenrechtsgerichtshof sah darin jedoch keine „besonderen Umstände“, um eine Ausnahme von der Regel zu machen, dass man den Rechtsweg im Heimatland vollständig beschreiten muss, bevor man vor dem europäischen Gericht klagen kann.


Lambsdorff: Urteil „rechtlich einwandfrei und nicht zu beanstanden“

Auch an der Wirksamkeit einer Beschwerde vor dem türkischen Verfassungsgericht wollten die Straßburger Richter selbst unter den derzeitigen Verhältnissen nicht zweifeln. Immerhin hätte die Klägerin trotz ihrer Befürchtung, die Verfassungsrichter könnten wegen der Festnahmen ihrer Kollegen voreingenommen sein, eine Klage zumindest einreichen können. Gegen die Straßburger Entscheidung gibt es keine Rechtsmittel. (Beschwerde-Nr. 56511/16)

Der Vize-Präsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), verteidigte die Entscheidung der Straßburger Richter. Das Gericht sei „chronisch überlastet“, weil die Mitgliedstaaten es nicht ausreichend mit Personal und Geld ausstatteten, sagte Lambsdorff dem Handelsblatt. Bereits vor dem aktuellen Fall seien dort Tausende Fälle anhängig gewesen, die der Gerichtshof noch bearbeiten müsse. „Unter diesen Umständen und nach seiner Satzung in Bezug auf die Ausschöpfung des nationalen Instanzenzuges ist die Entscheidung des EGMR nicht nur nicht überraschend, sie ist rechtlich einwandfrei und nicht zu beanstanden.“

Lambsdorff sagte jedoch auch: „Sollte die türkische Justiz die Bearbeitung des hier angesprochenen Falles in rechtsstaatlich nicht vertretbarer Weise verzögern, entstünde eine andere Lage, in der der Gerichtshof ausnahmsweise auch vor Ausschöpfung des Instanzenzuges angerufen werden kann.“ Der direkte Weg zum Menschenrechtsgerichtshof ohne vorherige Befassung nationaler Gerichte aber sei ausgeschlossen.

Als Konsequenz forderte Lambsdorff eine „angemessene“ Ausstattung des Gerichts durch die Mitgliedstaaten, also auch Deutschlands. „Nur dann kann man sich vorstellen, dass es in Zukunft in vergleichbaren Fällen und ausnahmsweise eine unmittelbare Befassung geben könnte“, sagte der FDP-Politiker.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine Institution der EU, sondern des Europarates. Zu den 47 Mitgliedern des Rates gehört auch die Türkei.

Der türkische Regierungskritiker und Anwalt Ayhan Erdogan hält indes den Verweis auf den Rechtsweg in der Türkei zwar für formal richtig, am Ende aber für rein theoretisch. Die AKP, die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, habe die Justiz immer weiter unter ihre Kontrolle gebracht.


Brüssel stellt bisher schlechtestes Zeugnis für die Türkei aus

Die EU-Kommission hatte der Türkei zuletzt in ihrem neuen Bericht zur Beitrittsreife das bisher schlechteste Zeugnis ausgestellt. Bemängelt würden schwerwiegende Rückschritte insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit, zitierte die „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ aus dem Entwurf des gut hundert Seiten langen Berichts. Die Kommission kritisiert demnach, dass Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus „selektiv und willkürlich“ angewendet würden. Sie äußere sich zudem „ernsthaft besorgt“ über die vielen verhafteten Journalisten und die Schließung von Medien seit dem Putschversuch im Juli.

Auch mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz sei von einem „Rückfall“ die Rede, berichtete das Blatt. Ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte sei nach dem versuchten Putsch entlassen worden. Die EU-Kommission kritisiere außerdem, dass Beschuldigte während des Ausnahmezustands bis zu dreißig Tage in Haft sein können, bevor sie einem Richter vorgeführt werden. In dieser Zeit sollen Gefangene immer wieder gefoltert worden sein. die EU-Kommission bestätige das zwar nicht, verweise aber auf entsprechende Berichte.

Seit dem Putschversuch wurden mehr als 110.000 Beamte, Soldaten, Polizisten und Richter suspendiert oder eingesperrt, ebenso zahlreiche Journalisten. Zur Last gelegt werden ihnen Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zur Gülen-Bewegung, die für den Umsturzversuch verantwortlich gemacht wird.

In diesem Zusammenhang sollen die türkischen Behörden einem TV-Bericht zufolge nun auch die Verhaftung von 103 Wissenschaftlern in Istanbul angeordnet haben. Die Haftbefehle stünden im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Gülen-Anhänger, meldete der Sender NTV am Freitag. Im Zentrum der Untersuchung stehe die Technische Universität Yildiz. Die Zeitung Hürriyet berichtete, bei mehreren zeitgleichen Razzien in Istanbul seien bereits 70 Akademiker festgenommen worden.


Streit über möglichen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen

Das harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen vermeintliche Regimekritiker hat in Europa einen Streit über die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land entfacht.  Nach der Absage einer Reise von EU-Abgeordneten nach Ankara könnte das EU-Parlament für ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei votieren. Neben EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) warb auch die Berichterstatterin des EU-Parlaments für die Türkei, die niederländische Sozialdemokratin Kati Piri, für diesen Schritt. Wichtig sei aber, dass die Möglichkeit zum Dialog mit der Regierung in Ankara weiter gegeben sei, sagte Piris Sprecher am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) lehnt hingegen einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen ab. „Sprachlosigkeit hat noch nie weiter geführt, sondern birgt eher die Gefahr weiterer Eskalation in sich“, sagte der SPD-Politiker dem „Mindener Tageblatt“. Mit einem Ende der Gespräche wäre nichts gewonnen. „Im Gegenteil, wir würden uns eines wichtigen Mittels berauben, um Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung in der Türkei und die Dinge vielleicht zum Besseren zu wenden.“ Zugleich machte Schulz deutlich: „Klar ist: Sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, wäre das automatisch das Ende der Beitrittsgespräche.“

EVP und Sozialdemokraten stellen die beiden größten Fraktionen im EU-Parlament, wo kommende Woche über eine Resolution zu den Beitrittsverhandlungen abgestimmt werden soll. Die Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei stecken schon länger in einer Sackgasse. Der türkische Präsident Erdogan hat für kommendes Jahr ein Referendum in seinem Land darüber in Aussicht gestellt, ob die Verhandlungen mit der EU fortgesetzt werden sollen.

Mit dpa und Reuters

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