Energiekrise Wie die Ukraine Deutschland mit Atomstrom helfen kann

Die Ukraine und Deutschland können von einem Energiesystem profitieren, meint German Galushchenko Quelle: imago images

Der Druck wächst, noch schneller unabhängig von Putins Öl und Gas zu werden. Dabei kann die Ukraine helfen – und zwar schon vor einem möglichen EU-Beitritt, schreibt German Galushchenko, der Energieminister der Ukraine.

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Wladimir Putins aggressive, neoimperiale Politik basiert auf der Überzeugung, dass Europa weder stark noch entschlossen genug ist, um Öl und Gas aus Russland aufzugeben. Doch drei Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine ist etwas geschehen, das nicht nur den Kreml, sondern wahrscheinlich ganz Europa überrascht hat: Olaf Scholz forderte am 27. Februar eine Kehrtwende der deutschen Politik gegenüber Russland.

Der Kanzler versprach nicht nur, die Ukraine mit Waffen zu beliefern – sondern Deutschland auch komplett unabhängig zu machen von russischer Energie. Diese Abkehr ist eine gigantische Herausforderung – und sie wird immer drängender, wie aktuell die weitere Drosselung der Gaslieferungen aus Russland zeigt. Doch die Ukraine kann Deutschland bei dieser Herkulesaufgabe unterstützen.

Denn im Bereich der Dekarbonisierung bewegt sich die Ukraine in einer anderen Logik als Deutschland. Trotz der Entwicklung der erneuerbaren Energien, die in der Ukraine bis 2030 25 Prozent des gesamten Mix erreichen sollen, ist die Kernenergie der zentrale Bestandteil der kohlenstofffreien Energieerzeugung. Sie macht mehr als 50 Prozent des Stroms aus. Damit kann die Ukraine, die seit dem 16. März ihr Energienetz mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber synchronisiert hat, zum Outsourcer von Strom für Deutschland werden. Dadurch entsteht eine Art Versicherungspolster in Zeiten witterungsbedingt rückläufiger Erzeugung aus Solar- und Windkraftanlagen.

Unterschiedliche Zeitzonen nutzen

Darüber hinaus können die Ukraine und Deutschland von einem Energiesystem profitieren, das sich in unterschiedlichen Zeit- und Klimazonen befindet. Der Zeitunterschied zwischen Kiew und Berlin beträgt eine Stunde, womit sich auch die Stromverbrauchsspitzen der beiden Länder um eine Stunde unterscheiden. Dies erhöht die Liquidität des Marktes und ermöglicht es Deutschland, ukrainischen Strom billiger einzukaufen, wenn die Nachfrage nach ihm zurückgeht oder es einen erheblichen Überschuss an grüner Erzeugung gibt. Die Ukraine wiederum kann deutsche Windenergie in Überschusszeiten kaufen.

Zur Person

Trotz des Krieges arbeitet die Ukraine mit ihren europäischen Partnern weiter daran, die Strom- und Gasmärkte zu integrieren. Dazu gehört etwa, die Märkte, die Wettbewerbsbedingungen und die Umweltstandards zu vereinheitlichen. Weiter müssen die rechtlichen und technischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, um zwischenstaatliche Übertragungskapazitäten auszubauen. All das wird das Exportpotenzial des ukrainischen Energiesystems erhöhen – und zwar sowohl durch bestehende als auch durch neue Leitungen.

Langfristig können die Ukraine und Deutschland eine vorteilhafte Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien entwickeln, um gemeinsame Projekte durchzuführen, insbesondere auch im Bereich Wasserstoff. So hat Wind- und Solarenergie in Deutschland eine physikalische Grenze. Deutschland ist ein stark urbanisiertes Land mit wenig freier Fläche. Gleichzeitig hat die Ukraine ein günstiges Klima und Landschaft für den Bau von Windparks und Kraftwerken. Die Ukraine hat auch das notwendige wissenschaftliche Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff und ein entwickeltes Gastransportsystem für seinen möglichen Transport.



Im Süden der Ukraine, in der Nähe des Schwarzen Meeres, gibt es eine große Anzahl von Küstengebieten, die aufgrund der klimatischen Bedingungen für die Landwirtschaft ungeeignet sind. Dafür gibt es dort jedoch viele sonnige und windige Tage, um Strom zu erzeugen.

So beträgt das Windenergiepotenzial nach Angaben der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine 438 Gigawatt (GW) an Land und 250 Gigawatt auf See. Zum Vergleich: Das Windenergiepotenzial der Ostsee wird auf etwa 95 Gigawatt geschätzt. Die durchschnittliche jährliche Stromproduktion an Offshore-Stationen in der Ukraine kann 984 Milliarden Kilowattstunden erreichen, was ausreicht, um 19,5 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff durch Elektrolyse zu produzieren.

Die gemeinsame Nutzung des Windenergiepotenzials der Ostsee und des Schwarzen Meeres wird es Deutschland und der Ukraine künftig ermöglichen, einen flexiblen Markt zu schaffen, indem sie die Stromflüsse entsprechend den Wetterbedingungen ausgleichen. Heute jedoch wird diese Entwicklung durch geopolitische Risiken und Russlands Krieg eingeschränkt. Wenn wir aber an 2050 denken, wenn die EU Klimaneutralität erreichen will, muss die Bedeutung der nördlichen Schwarzmeerküste für die Energieerzeugung berücksichtigt werden. Um sie effizient nutzen zu können, ist es jedoch wichtig, dass die Ukraine im politischen Sicherheitsraum der Europäischen Union liegt.

Die positive Entscheidung des Europäischen Rates über die Ukraine als EU-Beitrittskandidat wird deshalb ein starkes motivierendes Signal an die ukrainische Gesellschaft sein, die heute für Europa und seine Werte kämpft.

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Noch vor dem Beitritt aber kann die deutsch-ukrainische Partnerschaft dazu beitragen, die Herausforderungen des grünen Übergangs zu lösen und eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft zu schaffen.

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