Energiepolitik Längere Laufzeiten allein reichen nicht

Der Streit um die Laufzeiten der Kernkraftwerke verdeckt: Das neue Energiekonzept muss Vorgaben für milliardenschwere Investitionen auch in Netze und zahlreiche Techniken liefern.

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Atomkraftwerk Biblis Quelle: dpa

Franzjosef Schafhausen hat ein Déjà-vu-Erlebnis. In seinem Büro am Berliner Alexanderplatz bastelt der Unterabteilungsleiter im Umweltministerium am Energiekonzept der Bundesregierung. Schafhausen gilt als ihr erfahrenster Klimaexperte. Als 1991 das derzeit noch gültige Konzept entstand, war er schon dabei – als Referent unter Dienstherr Klaus Töpfer (CDU). Heute soll er dem ergrünten Schwarzen Norbert Röttgen die Kohlen aus dem Feuer holen – und dafür sorgen, dass Atommeiler möglichst nicht zu lange am Netz bleiben.

Drei Kilometer entfernt sitzt Schafhausens härtester Gegenspieler: Detlef Dauke, Leiter der Energieabteilung im Bundeswirtschaftsministerium. Sein Chef, Rainer Brüderle (FDP), erwartet, dass Dauke langfristig sichere Bedingungen für Investoren organisiert, Zusatzbelastungen für den Industriestandort Deutschland verhindert. Und dass Kernreaktoren mehr als zehn zusätzliche Jahre laufen dürfen.

Über den Stand der Verhandlungen halten sich die Häuser und ihre Spitzenbeamten bedeckt. Das Terrain ist vermint, die Gegensätze sind eklatant. Röttgen-Mitarbeiter werfen den Kollegen aus dem Brüderle-Ministerium vor, sie klammerten sich an die alten Strukturen mit Kohle- und Atomkraftwerken. Umgekehrt schallt es aus dem Wirtschaftsressort, die Ökos wollten ein reines Klimaschutzprogramm, ohne Rücksicht auf volkswirtschaftliche Verluste. Der Vorteil der Umwelt-Fraktion: Der Klimaschutz ist durch klare Minderungsziele festgelegt; die beiden anderen Punkte des energiepolitischen Dreiecks – Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit – sind dagegen nicht definiert. Vor allem aber überlagert der politische Streit über die Nuklearanlagen alle anderen Aspekte.

Langfristige Investitionszyklen

Fatal, findet Marc Oliver Bettzüge. „In einem umfassenden Energiekonzept ist Kernkraft zwar eine wichtige Facette, aber nicht die einzige und entscheidende.“ Sein Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI) erstellt zusammen mit Prognos und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung das Gutachten für die Regierung, das nicht nur Laufzeiten der Kernkraftwerke kalkuliert.

Das Energiekonzept soll Großes bewirken: einen verlässlichen Rahmen für Investoren schaffen, von Kraftwerksbauern über Netzbetreiber bis hin zu Automobilherstellern. Kein Wirtschaftszweig hat so langfristige Investitionszyklen wie der Energiesektor. Kraftwerke laufen 40 Jahre, dazu kommen bis zu zehn Jahre Planung. Trassen für Hochspannungsleitungen sind noch langlebiger. Und hätte das Wasserstoffauto eine Zukunft, bräuchte es ein flächendeckendes Tankstellennetz.

Wie stark sich die verschiedenen Parameter gegenseitig beeinflussen, zeigt die Brennelementsteuer. Große Versorger errechnen gerade, dass die Zusatzabgabe längst totgesagte Anlagen wieder attraktiv macht. Braunkohlekraftwerke beispielsweise, die das Klima am stärksten belasten, werden relativ günstiger und profitieren noch vom Preisverfall der CO2-Zertifikate. „Es wäre wichtig, festzulegen, was die Interessen der Bundesrepublik sind, welche konkreten energiepolitischen Ziele wir verfolgen und mit welchen Mitteln wir diese erreichen wollen“, verlangt Bettzüge. „Ganz entscheidend ist dabei: Welche Rolle will oder soll der Staat spielen?“

Wettlauf um Subventionen

Gerade da herrscht in Deutschland Chaos. Mal gibt der Staat den Preis für Technologien vor, wie bei der Einspeisevergütung für erneuerbare Energien. Mal setzt er Standards, wie bei den Schadstoffklassen für Pkws. Und über allem schwebt der Handel mit den CO2-Verschmutzungsrechten. „Wir haben mit dem Emissionshandel eine marktwirtschaftliche Regelung – das ist gut“, lobt Leonhard Birnbaum, der junge Strategievorstand beim Energieversorger RWE. Aber es gebe etliche Vorschriften, die kontraproduktiv wirkten. „Die Politik hat stets gefordert, Speicher für den Windstrom zu schaffen. Aber per Federstrich wurden neue Pumpspeicherkraftwerke unrentabel gemacht, denn nun fallen zweimal Netzgebühren an, nämlich für den Stromtransport zu und von den Kraftwerken.“

„Der Leitgedanke für das Energiekonzept muss lauten: So viel Marktorientierung, Wettbewerb und Effizienz wie möglich“, verlangt Birnbaum. „Das brächte einen Wettstreit der Technologien und Konzepte statt eines Wettlaufs um Subventionen.“ Die Folgen für den Energiemix der Zukunft: „Mehr Effizienz vor allem im Wärmemarkt; deutlich weniger, vielleicht sogar kein Zubau mehr bei Solar. Windenergie und Biomasse sind von den erneuerbaren die aussichtsreichsten Technologien.“ Bei Heizungen und im Verkehr lässt sich deutlich mehr sparen als bei Stromproduktion oder Industrie.

Strompreise in Europa

Verzahnen müsste die Bundesregierung ihre Leitlinie auch mit der europäischen Energiepolitik. Denn über den Umweg Binnenmarkt spielt die EU-Kommission mit. Sie stört, dass auch nach drei Regulierungspaketen der kontinentale Markt zersplittert ist. Energiekommissar Günther Oettinger wird im November seine Pläne vorlegen, wie die Infrastruktur den einheitlichen Markt voranbringen könnte. „Wir müssten jetzt den Netzausbau für die Zukunft planen, und zwar europaweit, und dann die Erzeugung an die optimalen Standorte setzen“, fordert EWI-Direktor Bettzüge. „In der Vergangenheit haben wir es eher umgekehrt gemacht – und das meist nicht zu unserem Vorteil.“ Georg Zachmann vom Brüsseler Thinktank Bruegel ergänzt: „Nur wenn das Stromnetz auf EU-Ebene geplant wird, kann die erforderliche Infrastruktur entstehen.“

Danach sieht es nicht aus. Und das, obwohl die echten Herausforderungen erst noch kommen: die Anbindung der gigantischen Windparks in der Nordsee, der Solarfarmen in Spanien und – in ferner Zukunft – auch in der Sahara, wie das deutsche Projekt Desertec verspricht.

Das Problem beim Energiekonzept: Wissenschaftler und Regierung müssen mit einer Fülle von Annahmen über die nächsten 40 Jahre die Entwicklung von Technologien, Kosten und Preisen beschreiben, um daraus die Szenarien abzuleiten. Das Ziel: der Politik aufzeigen, welche Folgen ihre jeweiligen Entscheidungen haben könnten. Wie das im Einzelnen aussehen soll, ist hoch umstritten. Bislang haben sich die beiden Ministerien gerade mal auf eine Gliederung verständigt, also festgelegt, welche Themen überhaupt behandelt werden. Aber ansonsten bastelt jeder für sich, erstellt die Kapitel allein, wartet auf die Zusammenführung, wenn die Berechnungen der Gutachter vorliegen. Dann kommt das große Duell.

Den eigenen Umweltminister düpiert

Ursprünglich sollten die Resultate schon Mitte Juli kommen, damit der Streit um die Meiler nicht den Wahlkampf in Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 belastet. Doch die externen Experten streikten. So schnell könnten sie nicht alle vier gewünschten Varianten kalkulieren. Sie schafften allenfalls zwei sowie das sogenannte Referenzszenario, das auf einem Festhalten am Ausstiegsbeschluss basiert.

Schon brach wieder Streit aus. Das Umweltministerium wollte gern die Laufzeitverlängerungen um 4 und 12 Jahre rechnen lassen, das Wirtschaftsministerium plädierte für 12 und 20 Jahre. Am Ende sprach Kanzlerin Angela Merkel ein Machtwort: Alle vier Varianten sollen auf den Tisch, einschließlich der Langzeitlösung 28 Jahre. Denn die hatte die Unions-Fraktion durchgesetzt und damit absichtlich den eigenen Umweltminister düpiert. Derzeit mag Merkel die Abgeordneten nicht zusätzlich reizen. Bis zum 27. August sollen die Experten nun die Ergebnisse präsentieren. Mitte September könnte das Kabinett über das Konzept und damit auch über längere Laufzeiten beschließen.

Streit um Atomlaufzeiten

Derweil streiten Parteien, Bund und Länder, ob die Produktionsverlängerung der Zustimmung des Bundesrats bedürfe. Direkt nach der Bundestagswahl gab es da noch kein Problem: Mit einer schwarz-gelben Doppelmehrheit in Bundestag und Länderkammer schien jede Jahreszahl möglich. Doch Merkel wollte den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen nicht mit einer Anti-Atom-Debatte gefährden. Seit der Wahlschlappe von CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ist eine Ländermehrheit nicht mehr zu erwarten.

Also sollte es fortan ohne den Bundesrat gehen. Umweltminister Röttgen zog sich den Zorn der Koalition zu, als er lediglich eine „moderate“ Ausweitung für zustimmungsfrei erklärte – wie viel moderat auch sein mag. Der Rheinländer stützte sich auf eine Expertise von Innen- und Justizressort, die ein „nicht unerhebliches Verfassungsrisiko“ vortrugen. Auf Nummer sicher will deshalb der CSU-Landesgruppenvorsitzende Hans-Peter Friedrich gehen. Wenn sich die Haltung durchsetze, der Bundesrat müsse jetzt zustimmen, könnte eine Normenkontrollklage klären, ob nicht auch das Ausstiegsgesetz der früheren rot-grünen Bundesregierung das Ja der Länderkammer gebraucht hätte.

Kapazität und Kosten

Was Friedrich nicht sagt: Die Attacke ist schon in Arbeit. Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer prüft derzeit eine Normenkontrollklage gegen das Ausstiegsgesetz. Käme das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, die damalige Änderung des Atomgesetzes hätte der Zustimmung der Länder bedurft, wäre das Paragrafenwerk grundgesetzwidrig zustande gekommen – und damit nichtig.

Derzeit setzen die Atomfans auf ein Karlsruher Urteil zum Luftsicherheitsgesetz, das vorvergangene Woche bekannt wurde. „Die bloß quantitative Erhöhung der Aufgabenlast genügt dazu aber grundsätzlich nicht“, lehnten die Richter zu viel Mitsprache des Bundesrates ab. Die logische Schlussfolgerung der Nuklearfraktion: Mit längeren Laufzeiten müssten die Aufsichtsbehörden eben nur mehr kontrollieren, aber nicht anders.

Rahmenbedingungen für Kernkraft weiterentwickeln

Schützenhilfe für die AKW-Betreiber kommt aus Brüssel. Die EU-Kommission ist überzeugt, dass die Klimaziele nur mit Nuklearenergie zu erreichen seien. „Die Kernkraft wird auch in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle dabei spielen, wenn wir unseren Energiebedarf mit weniger Treibhausgasen decken wollen“, sagt Energiekommissar Oettinger. „Ich bin mir mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso einig, die europäischen Rahmenbedingungen für die Kernkraft entschlossen weiterzuentwickeln.“ Demnächst wird Oettinger eine Richtlinie zur Entsorgung nuklearer Abfälle vorlegen.

Zudem hat der Europäische Gerichtshof den Brüsseler Einfluss in der Nuklearenergie in jüngster Zeit gestärkt. „Es ist zu erwarten, dass sich die Europäisierung der Kernenergie fortsetzen wird“, prognostiziert Wolf Spieth, Energieexperte der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer.

Vertrauensvorschuss für die Politik

Doch bisher hat die EU-Kommission keinen Hebel, Deutschland zur Verlängerung der Laufzeiten zu zwingen – zumal es sich auf gutem Wege befindet, die Klimaschutzvorgaben zu erfüllen. Das Bundesumweltministerium reichte in Brüssel eine Schätzung ein, wonach bis zum Zieljahr 2020 der Anteil der erneuerbaren Energie 18,7 Prozent betragen wird – also knapp über der Zielmarke 18 Prozent.

Für die Energieversorger kommt es nun vor allem darauf an, wie weit sie den geplanten politischen Vorgaben glauben wollen. „Es gab vonseiten der Versorger einen Vertrauensvorschuss für die Politik“, blickt RWE-Vorstand Birnbaum auf die rot-grüne Koalition zurück. „Deshalb haben wir damals dem Ausstieg aus der Kernenergie zugestimmt, den wir sachlich für falsch hielten.“ Die von der bürgerlichen Koalition geplante Brennelementsteuer sieht die Branche dagegen als Verstoß gegen den Ausstiegspakt. „Wenn jetzt doch wieder neue Belastungen hinzukommen, die damals ausdrücklich ausgeschlossen wurden, ist der Vertrauensschutz für Unternehmen nichts mehr wert. Dann können wir nicht so viel in Deutschland investieren.“

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