
Man sieht sich immer mehrmals im Leben, erst recht in einem politischen. Bonn, im November 1994: Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) muss sein Amt abgeben, Helmut Kohl hat es seinem „Mädchen“ versprochen, einer gewissen Angela Merkel. Töpfer organisiert als Bauminister den Bonn-Berlin-Umzug, dann mehrt er sein Ansehen lieber global als besonnener Umweltaktivist und Ökofunktionär der Vereinten Nationen. Merkel ihrerseits stürzt Kohl und mehrt ihre Macht.
An diesem Montag um neun Uhr begegnen sich die beiden in Berlin wieder. Merkel braucht jetzt seine Hilfe. Töpfer ist die optimale Besetzung für die heikle Aufgabe der Bundeskanzlerin. Als Chef der Ethikkommission Sichere Energieversorgung soll er Schwarz-Gelb die nachträgliche Legitimation für die abrupte Politikwende liefern, die die Bundesregierung nach dem GAU im japanischen Atomkraftwerk Fukushima hinlegte.
Der Abschlussbericht, den der Moralrat an diesem Morgen vorlegt, ist der Auftakt einer waghalsigen politischen Operation. Innerhalb von nur sechs Wochen will die Koalition die erst im vergangenen Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke nicht nur rückabwickeln, sondern in einen beschleunigten Ausstieg umwandeln. Am 8. Juli, noch vor der Sommerpause, soll die Wende beschlossen sein. So will es der Koalitionszeitplan.
Ob aus der taktischen Kehrt- eine historische Zeitenwende wird, hängt nicht zuletzt von der Überzeugungskraft ab, die Töpfer und seine 16-köpfige Kommission entwickeln.
Es wurde um jedes Wort gerungen, in einer „elektronischen Diskussion“, wie es ein Teilnehmer nennt. Jeder, der wollte, schrieb seine Ergänzungen in den Text und schickte sie an die sechsköpfige Steuerungsgruppe, die Tag für Tag die Anregungen in den Berichtsentwurf einpflegte oder verwarf. Die Kommission bearbeitete ihren Bericht von früh bis spät im Stile Wikipedias: Die Energiewende kommt per E-Mail und im Word-Korrekturmodus.