Energiewende Reservekraftwerke werden Milliarden verschlingen

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Großes Sicherheitsnetz

Die Auseinandersetzung wird darum gehen, ob das Sicherheitsnetz für die Wind- und Solaranlagen tatsächlich so groß ausfallen muss, nach welchem Muster es gestrickt sein soll und welche Kraftwerke dazu herangezogen werden sollen. Auf welchen Streit sich die Bundesregierung dabei gefasst machen muss, deutete bereits EU-Energiekommissar Günther Oettinger an. Er will „nur im Ausnahmefall“ zulassen, dass Kraftwerksbetreiber für die Vorhaltung von Reserveanlagen Geld erhalten.

Mit wie viel Extraeinnahmen die gebeutelten Versorger tatsächlich rechnen können, wird davon abhängen, auf welches Modell sich die große Koalition einigt. Die Unterschiede sind zum Teil beträchtlich. Insgesamt stehen fünf Modelle zur Debatte, die sich im Wesentlichen durch mehr oder weniger marktwirtschaftliche Elemente auszeichnen (siehe Tabelle Seite 43).

- Im sogenannten Auktionsmodell, das in den USA praktiziert wird, würde die Netzagentur in politisch festgesetztem Umfang Kraftwerkskapitäten ersteigern, die als Reserve herhalten müssten. Zwar wird dadurch die Versorgungssicherheit nicht von den Marktteilnehmern, sondern vom Staat festgesetzt. Bei der Auswahl der Kraftwerke hält sich der Staat jedoch völlig heraus. Die Chancen dieses Modells in Deutschland bewertet Patrick Graichen, Direktor des Berliner Energie-Thinktanks Agora, allerdings als gering: „Das Modell begünstigt bestehende Kraftwerke und bietet weniger Gestaltungsmöglichkeiten mit Blick auf die anstehenden Energiewende-Herausforderungen.“ Auf die Stromkunden kämen durch das Auktionsmodell Zusatzkosten von vier bis sechs Milliarden Euro zu.

- Im Modell des sogenannten fokussierten Kapazitätsmarktes dagegen würde die Bundesnetzagentur Kraftwerkskapazitäten nach bestimmten Kriterien ersteigern, etwa besonders effiziente oder mit Gas betriebene Anlagen. Dieses Modell präferiert Gabriels neu berufener Staatssekretär Rainer Baake, der zuvor Agora leitete. Kritik daran kommt von der halbstaatlichen Energieagentur Dena, die politische Willkür bei der Auswahl der Kraftwerkstypen befürchtet, die die Reserve bilden sollen. Wenig Hoffnung, zum Zuge zu kommen, könnten sich dann zum Beispiel wohl die Betreiber der 37 zur Stilllegung beantragten Anlagen machen. Denn unter ihnen sind so manche Luftverpester, etwa das Ölkraftwerk Ingolstadt. Die Kosten des fokussierten Kapazitätsmarktes sind für die Stromkunden höher als im Auktionsmodell.

- Die im Bundesverband der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft organisierten Energiekonzerne und großen Regionalversorger bevorzugen die Ausgabe von Zertifikaten für Versorgungssicherheit, zu deren Erwerb die Stromkunden gezwungen werden sollen. Dadurch könnte jeder Verbraucher selbst entscheiden, welche Versorgungssicherheit er wünscht, und Angebot und Nachfrage würden den Preis bestimmen. Das Modell hat ähnliche Nachteile wie das Auktionsmodell, wäre aber vermutlich deutlich preiswerter.

- Ginge es nach den eher kleineren Stadtwerken im Verband der Kommunalen Unternehmen, sollte es den Stromverbrauchern freigestellt sein, derartige Sicherheitszertifikate zu erwerben. Das würde den Stadtwerken ermöglichen, mit einer Vielfalt von Tarifmodellen auf Kundenfang zu gehen. Der Vorstand eines großen Energieversorgers ist jedoch skeptisch: „Ob dieses Modell auf Basis der Freiwilligkeit wirksam ist, darf bezweifelt werden.“

- Gäbe es gar keinen Kapazitätsmarkt, wie es EU-Energiekommissar Oettinger am liebsten hätte, wäre das Marktwirtschaft pur. Angebot und Nachfrage nach Versorgungssicherheit und somit nach Reservekraftwerken würden sich, so die Idee, frei entfalten und sich ausgleichen. Experten warnen jedoch vor der Illusion, Unternehmen würden bei kurzzeitigen exorbitanten Preissteigerungen wegen großer Stromknappheit ihre Nachfrage nach Strom einfach drosseln. Stattdessen würden sie die Produktion stoppen. Die Aussicht, dass die Politiker dies riskieren, scheint gering.

Bei der Dena kursiert eine weitere Idee. „Wir halten eine europäische Lösung für sinnvoll und arbeiten derzeit an einem deutsch-französischen Modell für Kapazitätsmärkte“, sagt Agentur-Chef Stephan Kohler. Zurzeit lotet die Dena zusammen mit dem Verband der französischen Kraftwerkswirtschaft die Chancen für einen gemeinsamen Kapazitätsmarkt aus. Eine Studie dazu soll im März vorgestellt werden.

Großen Einfluss auf die Entscheidung der Bundesregierung dürfte der Energie-Thinktank Agora haben, dessen Ex-Chef Baake von Wirtschaftsminister Gabriel zum Staatssekretär bestellt wurde. Agora wird von den Gründerfamilien der Metro (Mercator-Stiftung) und von den amerikanischen Familien Hewlett und Packard finanziert. Die deutschen Strommanager haben mit Baake einen eingefleischten Grünen vor sich, der früher Staatssekretär seines Parteifreundes und ehemaligen Umweltministers Jürgen Trittin war. Der 58-Jährige gilt als Anhänger des fokussierten Kapazitätsmarktes, bei dem der Staat vorgibt, welche Art von Kraftwerken die Reserve für wind- und sonnenarme Tage bilden soll.

Fällt die Entscheidung dazu erst „mittelfristig“, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, haben die Versorger davon erst mal wenig. „Nach RWE könnten dann auch E.On und EnBW längst in den roten Zahlen gelandet sein“, fürchtet ein Brancheninsider.

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