Energiewende „Not in my backyard“ hat endgültig ausgedient

Auch Landschaftsschutzgebiete sollen als Standorte für Windparks genutzt werden. Quelle: Imago

Klimaschutz geht künftig vor: Auch Landschaftsschutzgebiete sollen als Standorte für Windparks genutzt werden. Das ist erst der Anfang. Den Willen zur schnellen Energiewende werden viele Anwohner noch zu spüren bekommen. Ein Kommentar.

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Wenn es die Wendung nicht schon gäbe, müsste Robert Habeck sie jetzt erfinden. Mitte Januar, ein Krieg in der Ukraine gilt da noch als höchst unwahrscheinlich, besucht der Wirtschaftsminister Bayern. Dort spricht Habeck zum ersten Mal vom „ökologischen Patriotismus“, der das Land erfassen müsste (und einen gewissen Freistaat besonders).

Ökologischer Patriotismus also. Nichts anderes lebt der Grüne seit einigen Wochen vor. Es geht dabei heute nicht mehr nur (man denke sich die Anführungszeichen) um deutsche Klimaziele oder einfach viel mehr grünen Strom, sondern um Krieg und Frieden – und darum, den Wohlstand dieses Landes zu behüten.

Ja, bei ihm klang es schon vorher stets so, als ginge es um alles. Nun tut es das wirklich. Energie- ist jetzt Sicherheits-, ist jetzt Verteidigungspolitik. Jedes Windrad wird mit geopolitischer Bedeutung aufgeladen, jedes Solardach kommt mit Anti-Putin-Banner, und Gaskauf in den Emiraten ist moralisch immer noch besser als der in Russland.

Seit Kriegsbeginn schwingt beim Vizekanzler ein härterer Ton mit, wächst seine Entschlossenheit. Habeck ist mittlerweile überzeugt davon, dass es nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Invasion, keine langwierige Energiewende-Konsenssuche mehr geben darf und muss. Dass nach den Bombardements von Mariupol, Kiew und Charkiw, nach dem Massaker von Butscha, die Not-in-my-backyard-Nabelschau ein für alle Mal ausgedient hat. Wer sich aus der brutalen Abhängigkeit Russlands lösen will, kann nicht mehr jahrelang über Windräder, Solardächer und Stromnetze debattieren. Er muss sie bauen. Jetzt.



Insofern war es nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, dass Butscha und die Sanktionsfrage großen Raum einnahmen, als Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke am Montag ein gemeinsames Eckpunktepapier für beschleunigten Windkraftausbau vorstellten. Die Dinge sind halt nicht mehr voneinander zu trennen.

Mit ihren Reformen wollen die beiden Grünen erreichen, dass Windräder in der Bundesrepublik künftig nicht mehr fünf bis acht Jahre benötigen, bis sie sich drehen, sondern eher die Hälfte. Sie scheuen dabei wahrlich keine Konflikte mit der eigenen Klientel. Denn kurz gesagt geht Klimaschutz künftig vor Tierschutz. Die örtliche Gefährdung von Arten wird zum untergeordneten Argument. Außerdem sollen auch viele Landschaftsschutzgebiete, die nicht umsonst so heißen, dennoch als Standorte für Windparks genutzt werden.

Allein: Das ist erst der Anfang. Die Beschleunigung von Verfahren, das Entschlacken langwieriger und blockadeanfälliger Genehmigungsprozesse soll weitergehen, etwa mit konzentrierter und digitaler Bürgerbeteiligung. Hier wartet die nächste, die eigentliche Bewährungsprobe auf den Patrioten Habeck: Die Vernunft sagt schließlich den meisten, dass die Zukunft in mehr Ökostrom liegt. Dafür konkrete Opfer zu bringen, und sei es nur der verstellte Blick gen Horizont, ist etwas Anderes. Ein Ausbremsen der Energiewende aber ist für diese Regierung – aus guten Gründen – absolut alternativlos. Diesen Willen werden viele Anwohner noch zu spüren bekommen.

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