
Seit Monaten gibt es in der großen Koalition eine Geisterdebatte. Eine Debatte darüber, ob, wie und wenn ja wann den Bürgern eine Entlastung bei der Einkommensteuer gegönnt werden könnte (es geht dabei um die so genannte kalte Progression, die Gehaltserhöhungen übermäßig besteuert). Mittlerweile sind sich SPD und Union ganz fürchterlich einig, dass in der Sache etwas passieren muss. Irgendwann. Aber das liebe Geld dafür – woher nehmen?
Diesem Thema wohnt eine ganz eigene Absurdität inne, weil die große Koalition, die den fleißigen Leuten im Land angeblich so gerne etwas gönnen würde, eine andere Entlastung Anfang des Jahres ohne großes Bedauern gestrichen hat: beim Rentenversicherungsbeitrag. Der hätte per Gesetz sinken müssen, tat er dann aber keineswegs. Weil die Regierung das Geld dringend brauchte. Für ihre Wahlgeschenke.
Seit geraumer Zeit klettert die Reserve der Rentenversicherung von Rekordstand zu Rekordstand, der guten Lage am Arbeitsmarkt und vieler sozialversicherungspflichtiger Jobs zum Dank. Der Beitragssatz ist eng mit dieser Rücklage verknüpft: Übersteigt die Reserve dauerhaft eine bestimmte Grenze (wer es genau wissen will: das anderthalbfache einer Monatsausgabe der Rentenversicherung), muss der Beitrag sinken, unterschreitet er ein gewisses Limit, muss er steigen. Durch diesen klugen Mechanismus kann die Rentenkasse kleinere konjunkturelle Schwankungen ohne Probleme abpuffern.
Die wichtigsten Fakten zum Rentenpaket
Wer mindestens 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, kann vom 1. Juli an ab 63 Jahren ohne Abschlag in Rente gehen. Begünstigt sind aber nur die Geburtsjahrgänge zwischen Mitte 1951 und 1963 - mit schrittweise abnehmendem Vorteil. Phasen vorübergehender Arbeitslosigkeit werden auf die Beitragsjahre angerechnet, nicht jedoch die letzten zwei Jahre vor Beginn der Frührente. Der Stichtag dafür ist jeweils der 61. Geburtstag. Selbstständige, die mindestens 18 Jahre lang Rentenpflichtbeiträge bezahlt und sich dann mindestens 27 Jahre freiwillig weiterversichert haben, können ab 63 ebenfalls abschlagfrei in Frührente gehen. Von der Regelung profitieren in vollem Umfang aber nur die Jahrgänge 1951 und 1952. Jeder spätere Jahrgang muss jeweils zwei Monate über den 63. Geburtstag hinaus arbeiten. Das Modell kostet zwischen 2 und 3 Milliarden Euro pro Jahr.
Etwa 9,5 Millionen Frauen, deren Kinder vor 1992 zur Welt kamen, bekommen Kindererziehungszeiten in der Rente künftig mit einem zusätzlichen Rentenpunkt honoriert. Pro Kind erhalten sie ab 1. Juli dann brutto bis zu 57 Euro monatlich im Westen, im Osten bis zu 53 Euro. Das entspricht einer Verdoppelung des bisherigen Betrages. Dies kostet etwa 6,5 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich.
Wer aus gesundheitlichen Gründen vermindert oder nicht mehr arbeiten kann, erhält brutto bis zu 40 Euro mehr Rente im Monat. Die Betroffenen werden so gestellt, als ob sie mit ihrem früheren durchschnittlichen Einkommen bis 62 - und damit zwei Jahre länger als bisher - in die Rentenkasse eingezahlt haben. Dies kostet zwischen 200 Millionen und 2,1 Milliarden Euro.
Um Frühverrentungen zu verhindern, sollen die bislang gedeckelten Mittel für Rehabilitationsleistungen dynamisiert werden. Dafür sind Mehrausgaben zwischen 100 und 200 Millionen Euro veranschlagt.
Nicht Teil des Pakets, aber von Union und SPD fest vereinbart ist, den Renteneintritt flexibler zu gestalten - und zwar auch nach Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze.
Hätte die große Koalition geltendes Recht befolgt, hätte der Rentenbeitragssatz Anfang des Jahres von 18,9 auf 18,3 Prozent gesenkt worden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wären insgesamt um rund sechs Milliarden Euro entlastet worden. In etwa um die Summe also, die bei der kalten Progression im Raume steht. Die Regierung aber setzte die Senkung einfach aus. Damit die Kosten des milliardenteuren Rentenpakets in Zukunft nicht ganz so schnell die Reserve leeren.
Heikle Frage naht
Nun hat die Rentenkasse Ende Juni mit 34 Milliarden Euro einen neuen Rekordstand verzeichnet, berichtet das "Handelsblatt". Der Arbeitsmarkt läuft eben weiter rund, außerdem werden die ersten Rechnungen über Mütterrente und abschlagfreier Rente ab 63 erst ab diesem Juli präsentiert.
Sollte die Konjunktur aber weiterhin so erfreulich laufen, kommt auf die große Koalition im Herbst eine heikle Frage zu: Soll der Beitragssatz dieses Mal treu nach Gesetzesvorgabe gesenkt werden? Oder wird die Entlastung erneut versagt?
Politisch spricht leider vieles dafür, dass ein zweites Mal gegen das Gesetz operiert wird: Denn wer die Beitragssatzsenkung ein weiteres Mal aussetzt, sorgt für bessere Einnahmen und kann drohende Beitragserhöhungen nach hinten verschieben, obwohl die Kosten des Rentenpakets bald so richtig ins Kontor schlagen werden. Politische Verschleierungstaktik.
Würde die Regierung hingegen das richtige tun, also senken und entlasten, müsste sie womöglich schon 2017 die Beiträge wieder hochschrauben, weil dann die Rentenkasse leer sein wird.
Beitragserhöhungen mitten im Wahljahr? In Politikerohren klingt das wie die Aufforderung zum Selbstmord.