




Hatte Michael Sommer Tränen in den Augen? Da war ein kleines Glitzern, ein verlegenes Reiben der Augenlider, als Andrea Nahles von ihrem Rednerpult aus Grüße hinauf an die Gästetribüne sandte, dorthin, wo der ehemalige DGB-Vorsitzende saß. Sommer war gekommen, um die politische Vollendung eines Projekts zu erleben, seinem Projekt. Zehn Jahre hat er auf diesen Tag warten müssen, ein paar Tränen wären da durchaus angebracht gewesen.
Historisch war heute eine der meistbenutzten Vokabeln im Bundestag. Und historisch ist der heutige Beschluss über den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zweifellos. Die Arbeitsministerin Nahles feierte den Mindestlohn in ihrer Rede als „moderne, soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert“. Peter Weiß, Sozialpolitiker der Union, bemühte ganz am Ende der Debatte gar Ludwig Erhards Formel vom „Wohlstand für alle“.
Eine lange, leidenschaftlich bis verbissen geführte Debatte in Politik und Gesellschaft geht mit dem Votum der großen Koalition zu Ende. In den vergangenen Monaten hätte dieser Auseinandersetzung etwas mehr Realismus auf allen Seiten gut getan. Die eskalationslüsterne Warn-Rhetorik einiger Ökonomen war dabei ebenso fehl am Platz wie die lakonische Da-passiert-gar-nichts-Haltung von vielen Gewerkschaftlern und Politikern.
Zoll kämpft gegen schwarze Schafe beim Mindestlohn
Dafür ist der Zoll verantwortlich, der dem Bundesfinanzministerium untersteht. Grundlage für die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG). In der Praxis laufen die Fäden bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) zusammen.
Nach Angaben des Zolls sind Verstöße gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das für einige Branchen Mindestlöhne garantiert, an der Tagesordnung. Um Kosten zu drücken und ihre Gewinne zu steigern, üben einige Firmen Druck auf ihre Beschäftigten aus. Diese geben offiziell den Mindestlohn an, obwohl sie tatsächlich deutlich weniger für ihre Arbeit bekommen. Oder als geringfügig beschäftigt gemeldete Arbeitnehmer arbeiten mehr, so dass tatsächlich der Mindestlohn gar nicht gezahlt wird. Auch werden von Firmen gerne Stundenaufzeichnungen manipuliert, die dem Zoll bei Kontrollen vorgelegt werden müssen.
Die Dunkelziffer ist hoch, der volkswirtschaftliche Schaden geht sicher in die Milliarden. Im vergangenen Jahr konnten die rund 6500 Zöllner Schäden durch Schwarzarbeit von etwa 750 Millionen Euro (2011: 660 Mio.) aufdecken. Sie überprüften mehr als 543.000 Personen (2011: 524.000) und annähernd 66.000 Arbeitgeber (2011: 68.000). Ihr oberster Dienstherr, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), meinte kürzlich: „Hinter den beeindruckenden Zahlen stehen Zöllnerinnen und Zöllner, die Tag für Tag und oft unter widrigen, ja manchmal sogar gefährlichen Bedingungen ihren verantwortungsvollen Auftrag erfüllen.“
Das gewagte Experiment, Sozialpolitik über staatliche Lohnfindung organisieren zu wollen, kann jetzt beginnen. Die deutschen Wähler, auch das gehört zur Wahrheit, wollen, dass es beginnt. Aber es bleibt dabei: Der Mindestlohn ist und bleibt ein Versuch mit offenem Ausgang.
An einen Erkenntnis muss man dabei erinnern: Mitnichten handelt es sich bei der Lohnuntergrenze um Arbeitsmarktpolitik. Wer dies glaubt, unterliegt einem kapitalen Missverständnis. Die 8,50 sind nichts anderes als ein mächtiger Hebel der Sozialgesetzgebung.
Genau an diesem Missverständnis trennen sich die nonchalanten Befürworter von den skeptischen Kritikern. Wer sich bewusst macht, dass der Lohn am Ende vom Markt und von Kunden bezahlt werden muss, der weiß, dass es sich bei den 8,50 Euro um eine staatlich verordnete Produktivitätsgrenze handelt, die so mancher Betrieb schlicht reißen wird. Nicht, weil der Arbeitgeber ein böser Lohndrücker ist, sondern weil er die 8,50 Euro nicht erwirtschaften kann. Das ist keine Panikmache, sondern Ökonomie.
Selbst aus der Perspektive der Sozialpolitik betrachtet, ist eine einzige Lohn-Marke für alle Branchen und Regionen falsch. Der wichtigste Pfeiler des deutschen Sozialstaats, die Grundsicherung, zahlt zwar an jeden Bedürftigen den gleich hohen Regelsatz, egal ob er in München lebt oder in Templin. Wegen der Mietzuschüsse fällt die Unterstützung, die unser Sozialstaat ganz individuell gewährt, aber höchst unterschiedlich aus. Der Mindestlohn als Werkzeug der Sozialpolitik hätte deshalb ebenfalls differenziert werden müssen.
Ist es schließlich würdelos, dass ein Hartz-IV-Empfänger in Wiesbaden unterm Strich rund 900 Euro vom Staat bekommt und in Schwerin vielleicht nur 650? Nein, es ist ein Gebot der bundesdeutschen Unterschiede. Genauso wenig würdelos wäre es gewesen, den Mindestlohn an diese Unterschiede anzupassen.
Die echten Freunde der sozialen Marktwirtschaft hätten mit einem robusten, aber deutlich niedrigeren Mindestlohn einige Argumente auf ihrer Seite gehabt. Einem Lohn, der sicherstellt, dass fleißige Bürger mit Vollzeitarbeit spürbar mehr haben als Arbeitslose. Einem, der die wenigen wirklich üblen Auswüchse von Arbeitgebermacht zurechtstutzt. Aber ohne dabei Arbeitsplätze zu gefährden.
Diese Chance ist, auch mit der Ausgestaltung der Mindestlohn-Kommission, vertan. Der Bundestag hat heute anders entschieden. Ein „Meilenstein“, wie Andrea Nahles heute sagte, markiert dieses Votum dennoch ohne Frage. Ob der 3. Juli 2014 allerdings ein ungetrübter Feiertag werden wird? Eher unwahrscheinlich. Leider.